seit 1994

Agadir, Atlas, Außenwohngruppe

Agadir, Atlas, Außenwohngruppe

Der lange Weg von der Jugendpsychiatrie in die Hilfen der Erziehung

 

Peter Alberter

 

Anmerkung: der Name des Jugendlichen wurde geändert

 


Kurz nach Weihnachten 1994: Mit einem lauten "Guten Morgen, Tim" machte ich mich bemerkbar. Auch die landläufigen Weckrituale - Zimmer lüften, leichtes Rütteln an den Schultern, begleitet mit dem ständigen Zurufen des Vornamens, gut gemeinten Bemerkungen über den momentanen Sonnenstand und der allgemeinen Wetterlage - brachten wenig Erfolg. Wie mir in der Übergabe, von Seiten der zuletzt zuständigen heilpädagogisch - therapeutischen Einrichtung und des Jugendamtes geschildert wurde, hatte ich es bereits am Morgen mit einer typischen Eigenschaft von Tim, einem 15-jährigen Jugendlichen zu tun.

 

 

Wochenlang hatte er sich im Submilieu einer entfernten Großstadt aufgehalten und als vermisst gegolten. Von diesem Zeitpunkt an verweigerte er sämtliche Mitarbeit. Er drangsalierte Mitbewohner und Betreuer, randalierte in der Gruppe und zerschlug Fensterscheiben mit der bloßen Faust. Mit Rasierklingen schnitt er sich die Arme auf, verteilte sein Blut auf weißen Wänden, bedrohte die BetreuerInnen und wurde mit der Polizei in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht. Tims Leben war nicht das erste Mal deutlich aus der Bahn geraten. Auf seiner "Heimkarriereleiter" oben angelangt, lag sein letztes Beziehungsumfeld in einer intensiven heilpädagogisch - therapeutischen Gruppe und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo eine Krisenintervention versucht wurde. Aber Tim machte, was er wollte, egal wo er sich aufhielt. Er hielt sich an keine Abmachungen und verweigerte sämtliche Anforderungen. Zwischen "jetzt er recht" und "mit Fernsehen und Alkohol das Leben genießen" lagen Selbstverstümmelungen, Autoaggressionen und ernst zu nehmende Suizidversuche. Es kam wie es kommen mußte: Die Situation spitzte sich weiter zu. Tim sah für sich keine Perspektiven mehr und drängte danach, mal wieder einen Neubeginn in einem anderen Heim machen zu können. Aber keines war bereit, ihn so aufzunehmen: "zu schwierig", "Gefahr für die Gruppe", "geballte Problemkonstellation" ... Tim hatte sich das anders vorgestellt.

 

Um ihn "vor der Straße" und weiteren destruktiven Erfahrungen zu schützen konzipierten wir (Leiterin und Psychologe der heilpädagogisch -therapeutischen Gruppe, zuständiges Jugendamt und ich) eine Maßnahme nach § 35 SGB VIII: Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung.

 

Ziel der Maßnahme war die Aufnahme in einer Außenwohngruppe, die es sich als die einzige zutraute, ihn nach einem halben Jahr intensiver Arbeit, aufzunehmen. Als natursportliche Methode wählten wir eine Mountainbiketour zu zweit, quer durch die Sahara, mit anschließender Rückfahrt auf den Rädern von Agadir zur Außenwohngruppe. Wir fanden mit dieser Idee sofort die Zustimmung von Tim. "Ja, das möchte ich machen". Es folgten gemeinsame Absprachen, und wir stellten Regeln auf, an denen wir uns zu orientieren hatten. Gemeinsame Vorbereitung, Planung, Konzepte für den Notfall ... und, um 09.00 Uhr aufstehen. Um 09.00 Uhr aufstehen! Hier stand ich nun - von der gemeinsam getroffenen Absprache keine Spur. Meine Weckversuche endeten abrupt: "Verpiß Dich". Der Cappuccino tröpfelte durch die Maschine und duftete, frische Semmeln standen auf dem Tisch, selbstgemachte Erdbeermarmelade, Orangensaft, das Zimmer war gelüftet. Ich zog die letzte Karte aus meinem Repertoire: die Decke weg.

 

 

Kaum war Tim aufgestanden, stellte er sich mit verschwollenem Gesicht und kleinen Augen vor mich und verlangte laut und fordernd nach einer Rasierklinge, damit er sich "ritzen" könne. Ihn kotze alles an, und vor allem ich rege ihn zu Tode auf. Mit geballten Fäusten stellte er sich vor mir auf und drängte hysterisch nach einer Rasierklinge. "Sonst schlage ich hier alles zusammen." Tim zitterte vor Aufregung. Er erzählte mir von der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo sie ihm dies erlaubt hätten. Entschieden lehnte ich aber seinen Wunsch ab. "Nein, wir sind hier nicht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und damit basta!" sagte ich energisch. Gegen seine Autoaggressionen und parasuizidalen Wunschhandlungen schlug ich ihm zwei Möglichkeiten vor. Erstens: Wir trainieren sofort zusammen Mountainbike. Tim lehnte ab. Zweitens: Wir hacken Holz zum Heizen, es ist kalt in der Wohnung. Tim lehnte abermals ab. Nachdem er beide Vorschläge als "nicht wirksam gegen Ritzen" zurück gewiesen hatte, befahl ich ihm sofort, seine Schuhe und sich warm anzuziehen und mir zu folgen. Fragen lehnte ich mit der Bemerkung "Du wirst schon sehen!" ab. Erstaunlicherseits gab Tim sich damit zufrieden. Wir holten ein altes und wunderschönes Sofa, das auf der Straße stand und auf die Sperrmüllabholer wartete. Später deckten wir uns mit wichtigen Reiseutensilien aus dem Outdoorladen ein. Gegen Abend- ich schenkte Tim eine Sopranflöte - lernten wir das Lied: "Zum Tanze geht ein Mädel" auswendig. Über seinen morgendlichen Wunsch sich zu verletzen, sprachen wir nicht. Bewußt fragte ich ihn auch nicht, ob es ihm denn schon besser gehe, obwohl er dies deutlich durch seine Körpersprache, Mimik und Gestik zeigte. Ein paar Tage später saßen wir im Flugzeug nach Agadir. Getrennt, denn ich bevorzugte das Nichtraucherabteil. Gezeichnet von der anstrengenden Vorbereitung und dem Abschiedsschmerz von meiner Freundin, blickte ich vom Flugzeug aus, auf den afrikanischen Kontinent. Mir liefen die Tränen über die Wangen.

 

 

Zur Vorbereitung in Stichpunkten

 

Materielle / technisch-instrumentelle Vorbereitung:

gemeinsame Reiseroutenplanung; gemeinsamer Materialeinkauf; Besuch, Besichtigung und Vorstellung in der Wohngruppe im Sinne einer Zielfixierung.
Physische Vorbereitung:
Mountainbike- und Konditionstraining, allgemeine ärztliche Untersuchung zwecks Notfallmedikation und ärztliche Abklärung, Vorstellung beim Kinder- und Jugendpsychiater.

 

Psychische und mentale Vorbereitung:

Diavortrag über Marokko.

 

Aktives und passives Sicherheitskonzept und Katastrophenplan:

Lernen und Üben von Notfall- und Erste Hilfe-Maßnahmen. Was machen wir, wenn wir uns verlieren? Vorbereitung der ersten Etappe. Tims Mountainbike wog mit Gepäck zwischen 35 kg und 40 kg, meines zwischen 67 kg und 95 kg. Die meiste Zeit würden wir Gegenwind haben, da wir die Sahara in östlicher Richtung durchquerten wollten und somit immer den beständigen Passatwind um die Ohren haben würden.

 

 

Sechs Monate mit Tim: eine explosive und exklusive Beziehung

 

Nach dieser zweiwöchigen Vorbereitungsphase flogen wir Anfang Januar nach Agadir / Marokko. Von dort fuhren wir mit den schwer bepackten Mountainbikes Richtung Süden und erreichten in Fam El Hisn den 29sten Breitengrad, unseren südlichsten Punkt. Wir überquerten mit Hilfe diverser Pässe die drei Atlasgebirge (Antiatlas, Mittlerer Atlas und Hoher Atlas) und durchquerten die Nordwestsahara in östlicher Richtung bis Merzouga, das 25 km vor der östlichen Grenze zu Algerien liegt. Zum Frühlingsanfang und nach 2279 km hart erstrampelten Kilometern verließen wir Marokko und radelten über das europäische Festland zurück zu unserer Heimatstadt Regensburg, die wir Mitte Juni nach 5380 km erreichten. Während unserer halbjährlichen Biketour erlebten wir endlose Wüsten mit Temperaturen um die +40 °C, aber auch das Atlasgebirge mit Eis und Schnee. Wir fuhren hunderte Kilometer auf reinen Sandpisten, schoben die Räder durch knöcheltiefen, feinsten Sand. Wir bezwangen den Antiatlas, den Hohen Atlas, den Mittleren Atlas und Ausläufer der Pyrenäen. Der höchste Punkt war der Pass Col du Zad (2178 m) Bei Außentemperaturen um die -5 °C biwakierten wir im Schnee, da uns ein Schneesturm mitten im Pass überraschte und dieser innerhalb von Stunden für vier Tage gesperrt wurde. Da wir keine Hilfe erwarteten, kämpften wir uns mit "Bike und mit Sack und Pack" durch teilweise 1 m bis 1 1/2 m hohe Schneeverwehungen. Bis auf wenige Jugendherbergen und einfache Hotels übernachteten wir überwiegend im Freien und versorgten uns mittels Campingkocher eigenständig. In Marokko arbeiteten wir als Handlanger auf einem traditionellen marokkanischen Lehmbau mit.

 

 

Materialverschleiß und Umgang mit Material

Großes Unbehagen bereiteten uns die kleineren und größeren kapitalen Schäden an den Mountainbikes. Viele Verschleißteile hielten den Belastungen nicht Stand. Neben der Reparatur von abgebrochenen Rahmenhalterungen und Gepäckträgern mußten wir etliche Radlager, Kettenumwerfer, Zahnräder und Schalteinheiten auswechseln. Insgesamt fuhren wir an die 100 platte Reifen und wechselten ca. 70 Speichen, zweimal pro Rad die komplette Bereifung und einmal ein komplettes Laufrad. Als qualvoll und kaum zu bewältigen stellte sich für Tim das rechtzeitige Waschen seiner Kleidung dar. Ebenso schwer fiel es ihm, in seinen Packtaschen eine gewisse Ordnung zu halten. Schmutzwäsche trennte er von der sauberen so gut wie nicht. Er stopfte seine Kleidungsstücke zerknüllt, im Bündel, in die Packtaschen oder befestigte sie außerhalb der Taschen, unter den Spanngummis. So verlor er mehr und mehr seiner Kleidungsstücke. Oder er warf er seine unsaubere Unterwäsche und Strümpfe einfach weg. Auf diese Problematik angesprochen, zeigte er in den ersten Monaten wenig Einsichtig. Stets reagierte er mit der trotzigen Bemerkung, es würde sich um sein Eigentum und seinen Privatbereich handeln und nicht um meinen. Sein Verlust wurde ihm erst im Atlasgebirge richtig deutlich, wo ich ihm mit Strümpfen als Handschuhersatz aushelfen mußte, um ihn so gegen Erfrierungen zu schützen. Erst nach diesem Zeitabschnitt bemerkte ich, daß er vermehrt auf seine Kleidungsstücke und auf sein Material achtete.

 

Tim: "... Mit der Kleidung früher, das war miserabel meinerseits. Ich hab nicht aufgepaßt, was ich verloren habe, dann nicht mehr gesucht. Was zerrissen war, nicht zum Schneider gebracht, dann war das Stück total kapput. Heute passe ich genauer auf, schaue mir nach dem Packen den Platz genau an, ob ich nichts liegenlassen habe. Ich bin auch schon ein paar mal 5-6 km zurückgefahren, um das verlorene wieder zu finden, daß hätte ich früher nicht einmal im Alptraum gemacht., ..."

 

 

Supervision

 

Neben fest vereinbarten allwöchentlichen Telefonaten erhielten Tim und ich alle ein bis zwei Monate - Marokko, Frankreich und Deutschland - feste Supervision durch einen Diplompsychologen und Kinder- und Jugendtherapeuten des Kinderzentrums St. Vincent.

 

 

Gesundheit

 

Mit der Zeit verloren das Thema Ritzen und andere Formen der Autoaggression mehr und mehr an Bedeutung. Durch unsere sportlichen Aktivitäten hatte Tim gelernt, seinem inneren Druck Freiraum zu schaffen. So kam es während der ganzen Maßnahme nie zu einer parasuizidalen Handlung. Auch fügte sich Tim keine Verletzungen in Form von Tätowierungen, oder Aufkratzen von Wunden zu. Die anfänglichen "Probleme mit dem Alkohol" verschwanden mit der Zeit zunehmend. Aufgrund meiner konsequenten Ablehnung konsumierte er während der Maßnahme nicht mehr als ein Glas Sekt zu Silvester, ein Glas Wein in Spanien und 1 1/2 Flaschen Bier. Das Rauchen konnte er nicht einstellen. Er konsumierte täglich zwischen einer 3/4 und ganzen Schachtel Zigaretten. Die zur Krisenintervention von der Kinder- und Jugendpsychiatrie verordnete Notfallmedikation wurde innerhalb der Maßnahme nicht benötigt. Hierauf legte Tim besonderen Wert. Er ist stolz darauf, es ohne Medikamente geschafft zu haben.

 

 

Arbeitsverhalten und Leistungsvermögen allgemein

 

Tims Arbeitsverhalten und Leistungsvermögen war vor allem in der ersten Zeit sehr unbeständig und schwach. Bedingt durch seine geringe Frustrationstoleranz und seine Lustlosigkeit ging vieles ziemlich langsam vonstatten. Bei etwas komplizierteren Verrichtungen verlor er nach kurzer Zeit die Geduld und schimpfte laut. Kennzeichnend war in den ersten Monaten Tims ausgesprochene Hypernervösität, mit der er die Arbeit anpackte. Je weniger klappte, desto ungeduldiger und genervter wurde er, und dann wollte er den "ganzen Krempel einfach hinschmeißen". Kritik entmutigte ihn schnell und war immer ein Grund, die Tätigkeit mit viel "Rumgemaule" zu umrahmen. Viele Arbeiten, die ihm von vornherein zu "stressig" erschienen, packte er erst gar nicht an oder er versuchte, seine Unlust auf mich zu projizieren. Dann konnte er letztendlich mir die Schuld an allem und insbesondere an seiner Genervtheit in die Schuhe schieben. Raffinierte Tatsachenverdrehungen gehörten dabei ebenso zu seinem Repertoire, wie verbale Aggression, die sich gegen mich richteten. Mit der Bemerkung "Kann ich nicht" versuchte er geschickt die anfallenden Arbeiten mir zuzuschieben.

 

Hatte er damit keinen Erfolg, so wurde er in seiner Vermeidungshaltung schnell aufbrausend und verbal aggressiv. Selbst für einfachste Arbeiten, wie z.B. eine Flaschenhalterung, mittels zweier Schrauben an den Rahmen anzuschrauben, brachte er keinerlei Geduld auf. Lieber spannte er Halterung und Flasche unter den Spanngummis aufs Gepäck. Das unumgänglichen Reifenflicken, das ich ihm in Teilschritten mehrfach zeigte, rief in den ersten Monaten viel Aufsehen und üble Laune hervor. Die Flickzeremonie begann meist damit, daß er nicht wußte, wo er sein Flickzeug verstaut hatte. Anstatt es zu suchen versuchte er übellaunig, meines zu bekommen. Nicht selten folgte ein uncharmanter Appell an mich: Ich solle ihm doch beim Flicken helfen, dafür werde ich doch bezahlt.

 

 

Aus dem Tagebuch von Tim:

 

"Bike technisch habe ich von Peter eine Menge gelernt. .... Das hat zwar eine Menge Zeit gekostet, Nerven, und auch ab und zu Streß, aber mit der Zeit, lernte ich das. Danach machte das Biken richtig Spaß. Reparatur- und Wartungskenntnisse: Ketten ölen ist keine Arbeit. Doch am Anfang war das für mich ein großes Problem. Mit der Zeit wurde ich darin auch immer geübter. Sei`s auch Schrauben nachziehen. Am Anfang war ich nicht einmal in der Lage, meine Trinkflasche anzuschrauben. Heute schraub ich alles fest. Genauso brauche ich keine Hilfe mehr beim Bremsen einstellen, Speichen wechseln, Lagerfetten und Achter rausbauen. Mit der Zeit lernte ich Geduld zu haben und nicht aufzugeben, wenn es nicht sofort klappte. Achter rausbauen und Speichen wechseln ist eine langwierige Arbeit. Doch jetzt ist das alles kein Problem mehr.

 

 

Im Verlauf von einigen Monaten intensiver Unterstützung hatte Tim gelernt, die anfallenden oder übertragenen Arbeiten mit mehr Geduld und sorgfältiger zu Ende zu führen. Über gute Ergebnisse freute er sich und zeigte sie mir stolz. Schäden am Mountainbike sah er mit der Zeit gelassener entgegen. Er hatte gelernt, daß Pannen durch handwerkliches Geschick und Einsatz zu beheben sind. Da Tim durch Mangel an Konzentration und häufig vorhandene Lustlosigkeit unvollständige und schlampige Arbeitsergebnisse lieferte, waren Nachkontrolle, Arbeitsreflexion und Ermunterung zur Arbeit wichtige Bestandteile beim Umgang mit ihm. Auffällig ist eine deutliche Diskrepanz zwischen seiner Einschätzung und seinen Leistungen. Sprach er schon fast von einer meisterhaften Arbeitsweise, so kann ich ihm, objektiv betrachtet, über einen längeren Zeitraum nur ein unterdurchschnittliches Leistungsverhalten bescheinigen.

 

 

Sich Ziele setzen und Ausdauer entwickeln

 

Eigentlich wollte Tim mit mir aufstehen, doch der schaurige Anblick - alles naß und kalt, gekoppelt mit seinem warmen Schlafsack - ließ seinem inneren Schweinehund freien Lauf. Er entschied sich für nochmaliges hinlegen. 7 km weiter, wo ich z. B. in einem Cafe wartete, traf er dann ca. 1 1/2 Std. später ein. Bei einer Tasse Kaffee sprachen wir über sein Verhalten. "Ich habe doch gestern 09.00 Uhr gesagt, ... Was soll jetzt das schon wieder? ... " Neben der sofortigen behutsamen Reflexion war es meine Aufgabe, bei seinen Zielsetzungen ("heute möchte ich 100 km fahren") auf deren Erreichbarkeit zu achten.

 

Euphorisch schrieb er in sein Tagebuch:

"Das schafft man nur (71 km bis 09.30 Uhr am Morgen), wenn man ein festes Ziel vor Augen hat. - das habe ich bisher (in meinem Leben) selten gehabt. ... Das kann man nur mit guter Laune schaffen. ... Nur so schafft man auch als schwieriger Jugendlicher, eines Tages so eine Leistung zu bringen, die man sich im Leben niemals zu träumen gewagt hätte. Mann muß nur wollen und die Nerven behalten können. Mann muß sich einfach trauen so ein Wagnis zu unternehmen. Auch wenn mal ein bißchen was schmerzt, man kann, wenn man will weiter. ..."

 

In Marokko setzte sich Tim das Ziel, Spanien bis zum 20.03.1995 zu erreichen. Obwohl er an einer Lebensmittelvergiftung erkrankte und außer Gefecht gesetzt war, verlor er das Ziel nicht aus den Augen. Tagebuchnotiz vom 30. März 1995: "Wir hatten nur noch den morgigen Tag Zeit loszukommen. Ich sagte immer wieder zu Peter, denn wir hatten dann nur noch Gegenwind, wenn ich merke, daß der Wind in der Nacht aufhört, fahre ich sofort weiter. Am nächsten Morgen weckte ich Peter um 4.30 Uhr und stellte das Kaffewasser auf. Dann wurde zusammengepackt und wir fuhren mit nüchternen Magen, ... " Dann gab es Tage, an denen er gerade einmal 15 bis 20 km schaffte, alles hinschmeißen wollte und über mögliche Abbrüche der Maßnahme nachdachte: z.B. könne er sich ja den Arm brechen, somit sein Gesicht wahren... . Trotz diverser Krisen unternahm Tim kein einziges Mal ernsthaft einen Abbruchversuch. Er bestätigte fortlaufend unser Ziel, die Außenwohngruppe in Regensburg, mit dem Fahrrad zu erreichen.

 

 

Ausdauer entwickeln

 

"Hier soll ich hoch?, ... Das schaffe ich nie! ... Kannst Du nicht mein Gepäck mit hochnehmen? ... Warum nehmen wir nicht eines der billigen Taxi? ..." Ich erinnere mich noch genau, wie er zu Beginn der Maßnahme alle zwei Kilometer nach einer kurzen Pause verlangte. Sobald sich die Straße ein wenig empor schlängelte, tobte und schimpfte er und verwünschte den Berg, das Fahrrad und mich. Nicht nur einmal warf er sein Fahrrad in den Graben und weigerte sich auch nur noch einen Meter weiter zu fahren. Im Lauf der Zeit entwickelte er mental und konditionell mehr Ausdauer. Aus Tims Tagebuch: "Das tägliche Radlfahren und schauen, soviel km wie möglich zusammen zu kriegen, ist sehr anstrengend. Aber dafür, wenn ich mich durchbeiße, bekomme ich Tag für Tag mehr Kondition und Muskeln." Sehr bald stellte sich heraus, daß seine Ausdauer sehr von seiner psychischen Verfassung abhing. So erreichten wir den Spitzenwert von 131 km als Maximalleistung. Ebenso mußten wir die Minimalleistung von 13 km hinnehmen.

 

Tageseintrag von Tim (15.02.1995):

"Wir hatten 40 km lange Piste. Am Anfang hatten wir genug Wasser. Doch durch unkontrolliertes Saufen hatten wir nach 15 km fast kein Wasser mehr. Ich bekam das volle Augenflimmern, denn wir mußten in der prallen Sonnen (35°) fahren, ... Peter mußte dann das Wasser rationieren. Er selber trank nichts, denn er gab das Wasser mir, denn ich war kurz vor dem umfallen. Ich wollte mich liebend gern hinlegen, aber ich wußte zu genau, wenn ich das tun würde, würde ich sofort einschlafen und dann aber auch sterben. Doch ich raffte mich immer wieder selber auf und mit Peters Hilfe schoben wir die Bikes weiter. ... (Tagesdokumentationseintrag Tim 15.02.1995)

 

 

Umgang mit Geld

"Am Anfang hättest Du mir auch 500 Dirham (Anmerk.: etwa 100 DM) geben können, sie wären schneller drausen gewesen, als Du schauen hättest können." Zu Beginn der Maßnahme hatte Tim enorme Schwierigkeiten, mit Geld umzugehen. Unmengen von Süßigkeiten standen bei ihm ebenso hoch im Kurs wie Flipper- und Computerautomaten. Um Fehlernährungen und Abhängigkeiten von Genußmitteln präventiv vorzubeugen, händigte ich ihm das Essensgeld in Marokko nicht aus. Ab Spanien, wo die Lebensunterhaltungskosten beachtlich gestiegen waren, zahlte ich ihm jeweils den Tagessatz aus: erst in Etappen, mit genauer schriftlicher Fixierung und dann, als weiteren Lernschritt die ganze Summe am Morgen. So lernte Tim, mit seinem Geld zu wirtschaften. Auf diese von mir schrittweise beabsichtigten Verselbstständigungsprozesse reagierte Tim stets mit großem Unbehagen. So bezeichnete er mich in Spanien wütend als "miese Sau" und Kameradenschwein, nachdem ich mich geweigert hatte, weiterhin sein Geld aufzubewahren. Ich sei schuld, wenn er sein Geld verlieren würde, und dahinter stehe die Absicht , ihn fertig zu machen. Nach dem anfänglichen massiven Unbehagen gewöhnte er sich an diese Regelung und genoß es dann schließlich, mich nicht für jeden Kaugummi um Geld fragen zu müssen. Auch begann er mit diesem Zeitpunkt damit, sein Geld einzuteilen und zu sparen. So schaffte er es, sich über eine Woche Geld für einen Besuch bei Mac Donald zu sparen, kaufte sich ein schönes Feuerzeug, oder lud mich zum Kicker- und Billiardspielen ein.
Dann wiederum gab es in Spanien Tage, an denen er sich nicht einmal einen Teebeutel am Morgen leisten konnte, so abgebrannt war er. Durch Versuch und Irrtum und langsam erfolgreiches Bewältigen der finanziellen Probleme wurden seine Konflikte mit Geldes geringer und weniger, und ich merkte, wie froh und stolz er zugleich war. Er hatte es geschafft, eigenständig haushalten zu können.

 

Hierzu ein Ausschnitt aus seinem Bericht:

" ... Heute bekomme ich jeden Tag mein Geld ausbezahlt, und lernte, was Geld heißt. Ich habe am Anfang sozusagen das Geld aus dem Fenster geschmissen, was sich mit der Zeit änderte. Ich sparte auch einmal Kohle für MC Donald und ein Feuerzeug. Beim Feuerzeug, mußte ich halt mal am Abend hungern. Pech für mich. Einmal kaufte ich unüberlegterweiße in einer Tankstelle Süßigkeiten, Cola und Kippen für 775 Ptas. 1400 Ptas, hatte ich zur Verfügung. Aber ich bereute es dann später. Peter aß für das gleiche Geld ein 3 - Gängiges Menu. Das ärgerte mich schon ein bißchen. Peter`s Spruch dazu: "Das kann der besten Hausfrau mal passieren!"

 

 

Sich gegenseitig helfen

Vor Beginn der Maßnahme hatte meine Freundin Tim einmal gefragt, was er machen würde, wenn mir etwas zustoßen würde. "Nichts" hatte er geantwortet. "Ein schönes Leben würde ich mir machen". Wenn ihm etwas passieren würde, hatte er weiter gemeint, müßte sich Peter schon um ihn kümmern. Schließlich würde er ja dafür bezahlt. Umgekehrt würde dies nicht der Fall sein. Aus diesem Grund könne er mich auf der Straße verbluten lassen, hatte er wortwörtlich und eiskalt erklärt. In der Tat zeigte sich Tim wenig hilfsbereit, als ich in Midelt/Marokko schwer an einer Lebensmittelvergiftung erkrankte. Er nutzte meine Hilfslosigkeit sofort aus und kam entgegen der üblichen Vereinbarung erst nachts um vier Uhr vom Ausgang zurück. So war ich nicht nur in Sorge um mich, sondern hatte mich zusätzlich noch um ihn zu kümmern. Auf meine Erkrankung nahm er keine Rücksicht, sondern versuchte, die Situation für sich auszunutzen und möglichst viele Vergünstigungen für sich herauszuschlagen. Er machte keinen Hehl daraus, mir zu zeigen, daß ihn meine Erkrankung belustigte und erfreute.

 

Hier eine Notiz aus Tims Tagebuch:

"Peter hat zu meiner Schadenfreudigkeit eine winzig kleine Lebensmittelvergiftung. Er kotzte und scheißte die ganze Nacht durch, während ich ein Restaurant sah, wo es deutsche Sender gab. Ich war überglücklich und schaute bis früh morgens in die Glotze. Ging zurück in unsere Bude, und schlief seelig und glücklich ein, während Peter die ganze Nacht durchscheißte. Doch der arme, tapfere Mann entschloß sich am nächsten Tag doch noch ein paar km zu fahren."

 

Kurze Zeit später befand sich Tim in derselben mißlichen Lage. Ich konnte ihm sein gezeigtes Verhalten plausibel verdeutlichen. Seit diesem Zeitpunkt und nach einer deutlichen Aussprache gab er sich Mühe, mir in Notsituationen zu helfen. Er hatte erkannt, daß man, um eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, auch etwas investieren muß. Deutlich wurde mir sein geändertes Verhalten, als mir bei relativ hoher Geschwindigkeit der Vorderreifen platzte und ich auf die Straße stürzte. Tim hielt augenblicklich an, half mir und kümmerte sich um mein Fahrrad. Er erzählte anschließend, daß er seine Pflichten und Aufgaben, wie er mich nun notfallmäßig und sofort zu versorgen hätte, wie in einem Film vor seinen Augen abspulen sah. Glaubhaft versicherte er mir, daß er alles in die Wege geleitet hätte, um mir zu helfen. Tagebucheintrag von Tim (03.04.1995)
"Peter pfefferte es auch noch gewaltig hin ... überlegte ich blitzschnell, wo mein Verbandskasten ist. links,rechts? Wurscht. Aber wo hat Peter sein Zeug? Keine Ahnung. Wie zerrt man ein Schwergewichtigten Verletzten? Weiß ich auch nicht genau. Wie ...? Uff, zum Glück stand Peter auf. Mir rauchte der Kopf in denen paar Sek. der Kopf war vor überlegugnen gewaltig. zum Glück ist nichts passiert. .." Tagesdokumentation Tim 03.04.95

 

 

Gesteigerte Eigenverantwortung

 

Ab der Ankunft in Spanien hatte sich Tim nicht nur eigenständig um seine Verköstigung zu kümmern, sondern ich übergab ihm auch die navigatorische Verantwortung, Strecken und Etappenplanung. Je nach Bedarf und Schwierigkeitsgrad konnte er mich auch als Berater hinzuziehen.

 

Tagebucheintrag von Tim (24.03.1995):
"ICH bin Navigator, aber Peter fuhr voraus und ich im Windschattn, aber ich bestimmte die Rastplätze, Pausen, Essenszeiten usw. Wir hatten kräftigen Gegenwind, blieben aber sehr guter Laune. Wir fuhren nicht mal 1 Std, da sagte ich, hey cool, komm gehen wir auf den Strand, und ruhen uns "ein kleines bischen" aus (man betone "ein kleines bischen!". Wir taten es. Ich schlummerte auf einal ein, und ratzte 3 Std durch. Peter weckte ich, und sagte, daß wir endlich weiterfahren sollten, weil es ih langsam ein bischen zu langwielig wurde. Ich sagte, als wir mal wieder auf die Bikes waren, "komm fahren wir der Piste entlang, daß ist 100 % eine Abkürzung. Peter war nicht mal ganz so sicher, daß die Piste überhaupt bis in die Stadt führt. Doch sie führte bis in die Stadt aber, sie ging zackig bergauf, dann lappalutschimäßig bergab. Einmal kam si ein steiler Berg, daß Peter mir sogar helfen mußte mein Baby raufzuschieben. Wir mußten auch die Graffeldinger durch Knöcheltiefen Sand zerren. ... Wie ich später bemerkte, die 100 % abkürzung 10 km länger war, als auf der Asphaltstr. war, machte Peter sich über mich Navigator-Weifel lustig. (Anmerk.: unter Weifel verstand Tim Survivalprofi). Doch ich lachte kräftig mit. "

 

Ein andermal mußten wir unsere Route korrigieren, nachdem wir plötzlich vor der Autobahn standen. Schnell stellte sich heraus, daß Tim einen Streckenabschnitt nachlässig auf der Karte verfolgt hatte. Gesteigerte Eigenverantwortung bedeutete auch, daß er Abfahrtszeitpunkte, Pausen und tägliche Kilometerleistungen selbständig bestimmte. Weckte ich ihn noch in Marokko und bestimmte in erster Linie die örtlichen Gegebenheiten (Entfernung von Oase zu Oase zwischen 50 und 75 km) unser tägliches Vorankommen, so mußten wir ab Spanien in erster Linie eigenständig den Tag strukturieren, um ein Vorankommen zu gewährleisten.

 

Selbständig Entscheidungen treffen Am Anfang zeigte sich Tim orientierungslos und bedurfte der Hilfe und Unterstützung, um eigenständige Entscheidungen fällen zu können. Geschickt forderte er mir in Entscheidungssituationen immer wieder verschiedene und neue Lösungsvarianten ab. Bequem und ohne eigene Denkleistung suchte er die für ihn passende Lösung, nach dem Motto: Gefällt mir, oder gefällt mir nicht. Im Laufe der Maßnahme, gekoppelt mit steigender Verantwortung, lernte Tim eigenständig und situationsbezogen Entscheidungen zu treffen. Hierbei handelte es sich um einen mühsamen und noch nicht abgeschlossenen Prozeß, dem er sich auch weiterhin zu entziehen versucht.

 

Mein Tagebuchauszug am 05.April1995:

"Nach insgesammt 20 km schlug Tim vor, es für den heutigen Tag zu belassen. Er wolle auf der Stelle einen geilen Zeltplatz, schließlich sei er völlig ausgelutscht. Da er keinerlei Interesse zeigte unsere geplante Route weiter zu fahren, bogen wir auf der Stelle Richtung Meer ab. Völlig orientierungslos, genervt und entscheidungsunfähig überlegte er, ob wir nun jetzt hier an diesem potthäßlichen Platz bleiben sollten. Oder doch den ganzen Berg wieder hochstrampeln und es auf`s neue an einem anderen Platz versuchen sollten. Womöglich wäre dieser noch schlechter als der schon jetzt entdeckte. Was nun? Mir war es egal. Weiterfahren oder hier bleiben! Nach 2 1/2 Stunden (!) abwägen, schimpfen und fluchen entschied er sich für weiterfahren. Als wir letztendlich noch über einen steilen Abhang in eine Sackgasse fuhren, schien der Tag für ihn gelaufen zu sein." Tim schrieb hierzu in sein Tagesdokumentationsbuch: "Das ist die reinste Tour der Leiden. Habe 2 1/2 Std. überlegt, weiterfahren, nicht fahren? Pause machen, weiter! Grauenhaft. Kein Wasser, nichts zum Essen. Also weiterfahren. Konnte mich nicht mit Peter darüber rumprügeln, weil ich das gaanz alleine entscheiden durfte. Scheiße!"

 


Tim am Ende der Maßnahme

 

Häufte sich vor Beginn der Maßnahme eine "Schreckensmeldung" nach der anderen - Suizidversuch, Selbstverstümmelungen, Zerstörungen und Sachbeschädigungen, wochenlanges Vermißtsein -, so hatte Tim während des Projektes die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und sein Verhalten zu reflektieren. Sein nervöses und aggressives Auftreten verschwand zunehmend. Deutlich hat er an Orientierung und persönlicher Stabilität gewonnen. Er hat vieles erlebt und sich einiges erarbeitet, worauf er richtig stolz ist. Sein Selbstwertgefühl konnte um einiges wachsen. 5380 km bewältigen und durch vier Länder fahren - das ist keine normale Radtour. Tim hat es geschafft, er hat es sich bewiesen und kann etwas Besonderes vorweisen. Auch hat er nicht abgebrochen, sondern das Projekt bis zum Schluß durchgezogen. Neben dem neuen Zuhause in der Außenwohngruppe, das sich in seinem Kopf als erstrebenswertes Ziel fest verankert hatte, hat er sich fest vorgenommen, den qualifizierten Hauptschulabschluß zu erreichen, um anschließend eine Lehre als Maurer zu beginnen.

 


Autor

Peter Alberter Erlebnispädagoge, Heilpädagoge, Fachkrankenpfleger für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Outdoorspezialist seit 1985, im Bereich Segeln, Bergsport, Höhlenbefahrung, Kanadierwanderungen, Mountainbiking und Survival. Lehrbeauftragter an der FH Darmstadt für Erlebnispädgaogik. Dozent an verschiedenen Fachschulen und Fachakademien. Gewinner des Outward Bound Preises 1994, 1996 und 1997

 

Dieser Artikel erschien unter anderem Titel auch in der Zeitschrift für Erlebnispädagogik.

 

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