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Zu Fuß nach Regensburg, mit dem Rad nach Rumänien

Zu Fuß nach Regensburg, mit dem Rad nach Rumänien


Bricht über eine Intensivpädagogische Einzelbetreuung

 

Von Andreas Muhr und Peter Alberter

 

Am 21.08. 2001,  nach der Übergabe Hans-Jürgens (Name geändert) durch seine Eltern, holten ihn Mitarbeiter des Kap-Institutes (Kooperative-Abenteuer-Projekte, Regensburg) und sein Betreuer Andreas Muhr (Heilerziehungspfleger, Erlebnispädagoge) in Regensburg ab. Nach der Materialausgabe (Rucksack, Schlafsack, Therm-a-Rest-Matte, Spirituskocher, usw.) wurde Hans Jürgen mit seinem Betreuer in Velburg ausgesetzt. Das Ziel „Regensburg“ sollte zu Fuß an der Lauterach, Vils und Naab entlang erreicht werden.

 

Das „Aussetzen“ mitten in der Natur spielte Hans-Jürgens momentane Lebenssituation wieder. Hans-Jürgen und sein familiäres Umfeld waren hilflos und ohne Perspektive. Die Eltern wussten nicht, wie es weitergehen sollte und hatten keinerlei Ziel vor Augen. Besonders die Worte des Stiefvaters bei der Übergabe von Hans-Jürgen sind uns noch in Erinnerung geblieben: „Was will man da noch machen, da hilft doch nur einschläfern.“ Ständig stieß er mit seinem Verhalten die Grenzen von Jugendlichen und Erwachsenen. Geht es nicht nach seinem Willen oder werden zu große Anforderungen gestellt, zeigt sich Hans-Jürgen schnell erregt und aggressiv.

 

Insgesamt lebte Hans-Jürgen K. elf Wochen - von August bis November 2001 - in einer intensiv-pädagogischen Einzelbetreuung beim KAP-Institut Regensburg. Während dieser Zeit wurde er im Schlüssel 1:1 betreut und legte dabei mit Muskelkraft zu Fuß 120 km zurück und fuhr etwa 3000 km mit dem Fahrrad von Regensburg nach Rumänien ans schwarze Meer. Nach etlichen Zwischenauswertungen und Gesprächen mit dem Leiter des KAP-Institutes und des Kreisjugendamtes Pfaffenhofen stellten wir gemeinsam fest, dass Hans-Jürgen sich im Verhalten innerhalb der ISE-Maßnahme noch nicht so weit entwickelt hat, als dass eine Betreuung in Regensburg oder einer Wohnheimgruppe möglich wäre. Auf Grund der massiven Aggressionsproblematik von Hans-ürgen konnten wir uns nach mehreren KAP-internen Meetings keine andere Betreuungsform als eine Verlängerung des Reiseprojekts im Ausland für Hans-Jürgen vorstellen. Scheinbar machten wir das Konzept ohne Hans-Jürgen, denn er erklärte mit Erreichen des schwarzen Meeres die Maßnahme für beendet.  Dementsprechend verhielt er sich auch. Das heißt: letztendlich mussten wir die Maßnahme am schwarzen Meer mit der „roten Karte“ für Hans-Jürgen abbrechen. Grund waren Hans-Jürgens schwerwiegende verbale und körperliche Angriffe gegenüber seinem Betreuer, die so nicht länger tragbar waren Seit Abbruch der Maßnahme lebt Hans-Jürgen nun wieder in der elterlichen Wohnung

 

 

Die Clearing- Phase: zu Fuß von Velburg nach Regensburg

 

Der 120 km Fußmarsch von Velburg bei Neumarkt führte über Lauterhofen, Schmidmühlen, Kallmünz nach Regensburg immer am Fluss entlang – eben weil dass „Leben aus dem Fluss geraten ist“. Nach dem Finden der Lauterachquelle bestimmt dieser Fluss unsere ersten Etappen; weiter entlang an Vils und Naab erreicht Hans-Jürgen nach sechs Tagen sein Ziel.

 

Ein Auszug aus Hans-Jürgens Tagebuch (Freitag, den 14.08.01):“ Wir haben gepackt, Zelt aufgeräumt, gefrühstückt und Proviant und Pflaster für meine armen Füße besorgt. Dann losgegangen an zwei Flussmündungen vorbei und die Landschaft war auch cool!"

 

Im Laufe der ersten Woche konnte Hans-Jürgens Belastungsfähigkeit erprobt, erste Ziele gesteckt und sein Verhalten beobachtet werden. Der Plan für das langfristige Reiseprojekt ans schwarze Meer nimmt erste Züge an und wird detailliert von Hans-Jürgen in Zusammenarbeit mit seinem Betreuer geplant.

 

 

Pädagogische Ziele während dieser Wanderung:


Kennlernphase zwischen Erzieher und Hans-Jürgen - ihm wird nun zum ersten Mal bewusst, dass er allein auf sich gestellt ist und was es heißt, selbstverantwortlich zu Handeln. Er muss den ersten Schritt machen, sich Meter für Meter dem endlos entfernten Ziel nähern.
Nicht aufgeben, sondern weiterlaufen, auch wenn man Schmerzen hat und die Last des Rucksacks auf die Schultern drückt, Blasen und müde Füße ertragen lernen. Körperlliche Grenzerfahrungen machen und den eigenen Körper intensiv erleben. „… dann losgegangen und nach 14km war ich so fertig, dass Andi meinen Rucksack tragen musste, ich war voll tot!“ (Tagebucheintrag Hans-Jürgens vom 26.08.2001)
Hans-Jürgen berichtet erstmal über sein Privatleben, seine Erfahrungen im Heim, seine Gefühle und Stimmungen.
Er wird in die Planung des folgenden Reiseprojekts einbezogen, insbesondere bei der Zusammenstellung der selbst benötigten Ausrüstungsgegenstände. 

 

 

Vorbereitung der Radtour

 

Um für das bevorstehende Reiseprojekt optimal vorbereitet zu sein, werden Fahrräder und Ausrüstung abgestimmt und die letzten Reisemodalitäten erledigt. Hans-Jürgen und sein Betreuer wohnen in einer Waldhütte in der Nähe von Regensburg, um sich weitgehend ungestört vorbereiten zu können. Mitte der Woche trifft sich Hans-Jürgen noch einmal mit seinen Eltern, um zusammen mit dem Betreuer die Weiterführung der ISE – Maßnahme (Intensive Soziale Einzelbetreuung) zu besprechen und sich von ihnen zu verabschieden. Das Zusammenleben in häuslicher Umgebung gestaltet sich als außerordentlich schwierig, das die sich häufenden Aggressionen Hans-Jürgens gegen den Betreuer zum einen die zügige Vorbereitung der Reise hemmen und zum anderen durch die räumliche Gebundenheit weniger Möglichkeiten zur Entzerung und Entspannung von Konflikten bestehen. In der Selbsteinschätzung Hans-Jürgens wurden Konflikte und Auseinandersetzung jedoch zumeist heruntergespielt und als weniger massiv beurteilt.

 

Tagebucheintrag vom 02.09.2001: „Der ganze Tag war eigentlich für´n Arsch gewesen, voll der Stress mit Markus. Abends dann war es wider voll cool mit ihm!“

 

So klingt die Schilderung eines Tages, an dem Hans-Jürgen einen KAP-Mitarbeiter, der ihn am Wochenende betreute, mit dem Messer bedrohte. Grund für die Eskalation: Hans-Jürgen wollte nicht abspülen! Worauf er seinen Betreuer mit dem Messer bedrohte. Dieser verließ im Konflikt sofort den Raum, worauf Hans-Jürgen das Handy des Betreuers entwendete und für etwa 100 €  0190er – Nummern anrief.

 

 

Mit dem Rad von Regensburg nach Rumänien

 

Um Hans-Jürgen den Einflüssen der kommerziellen Umwelt, seiner Familie und den gewohnten Strukturen zu entziehen, radelt er mit seinem Betreuer von Regensburg über den Bayerischen Wald, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Rumänien an das Schwarze Meer. Die Route verläuft weitgehend durch die osteuropäischen Gebirgszüge der Tatra und hauptsächlich der Karpaten. Hans-Jürgen muss sich mit fremder Sprache, Wärungen und den Gegebenheiten fremder Länder arrangieren. Es ist kaum möglich, sich den Regeln zu entziehen, die er und der Betreuer aufgestellt haben. Hans-Jürgen muss mit seinem Betreuer kooperieren, um in der ungewohnten Umgebung einzukaufen, sich einen Schlafplatz zu organisieren, sich zu orientieren…Für eine angenehme Atmosphäre muss Hans-Jürgen Bereitschaft zeigen, seine Launen und Ausfälligkeiten unter Kontrolle zu bringen. Sonst drohen ihm Unannehmlichkeiten (alleine Reisen, selbständiges Finden der Radstrecke, bei Defekten auf sich selbst gestellt zu sein). Vor allem in den ländlichen Gebieten ist es notwendig, sich täglich entsprechend auf die Tour vorzubereiten, d.h. sich rechtzeitig und ausreichend mit Lebensmitteln und Getränken zu vrsorgen, da die Infrastruktur weit weniger ausgeprägt ist wie in Deutschland. Um in den meisten kritischen Situationen angemessen reagieren zu können, stellte der Betreuer mit Hans-Jürgen einen „Katastrophenplan“ auf, der sowohl Notruf, erste Hilfe sowie Sicherheit und Prävention umfasste. So hat der Jugendliche während der Maßnahme stets Telefonnummern für den Notfall mitgeführt; praktische Übungen im Umgang mit Verbandsmaterial steigerte die Verantwortungsbereitschaft in Unfallsituationen. Die tägliche Besprechung der bevorstehenden Strecke und der eventuell auftretenden Probleme vermittelte zusätzliche Sicherheit.

 

 

Regeln und Ziele für Hans-Jürgen


Folgende Regeln galten für Hans-Jürgen während der Einzelbetreuung:

     

  • Kein Alkohol,
  • keine Drogen,
  • keine körperliche Gewalt,
  • eigenständiges Aufstehen (Wecker),
  • Mitarbeit bei den täglichen Verrichtungen wie kochen, abspülen, usw.,
  • tägliche Tagesdokumentation im Tagebuch,
  • tägliche Reflexionseinheiten,
  • Beachtung der Verkehrsregeln,
  • Abmelden.

 

 

Ziele für Hans-Jürgen in seiner Persönlichkeitsentwicklung:

     

  • Steigerung und Verfestigung seines Sebstwertgefühls durch Erfolgserlebnisse,
  • Erhöhung der Frustrationstoleranz,
  • realistische Zielsetzung,
  • Förderung der Selbständigkeit,
  • Entwicklung von Ausdauer und Durchhaltevermögen,
  • Übernahme von Eigenverantwortung,
  • adäquate Umgangsformen mit dem Erzieher und anderen Personen,
  • aktive Auseinandersetzung mit seiner unmittelbaren Umwelt,
  • Mitgestaltung der täglichen Route und des Tagesablaufes.

 

Ziele für Hans-Jürgen im Sozialverhalten:

     

  • Konfliktbewältigung im täglichen Leben,
  • Grenzerfahrungen erleben,
  • offene Reflexionen und Bereitschaft,
  • Gefühle adäquat zu äußern,
  • Umgang mit Autoritäten,
  • Befähigung zur Selbst-Kompetenz,
  • Übernahme und Erlernen von sozialen Rollen,
  • Umgang mit der Aggressivität und Suche nach Alternativen,
  • Erfahren eines Gefühls der Anerkennung und uneingeschränkter Aufmerksamkeit von Seiten des Erziehers.

 

 

Beobachtungen und Verhaltensänderungen während der intensiv-pädagogischen Maßnahme


„Haushalt“ und Essen

 

Die täglichen Essenssituationen waren klar durchstrukturiert. Nur wenn sich Hans-Jürgen rechtzeitig um den Einkauf von Lebensmitteln kümmerte, hatte er ausreichend zu essen. Hans-Jürgen lernte sehr rasch verantwortungsvoll mit dem ihm täglich  zur Verfügung gestellten Tagessatz umzugehen und ihn sinnvoll einzusetzen. Angesichts der körperlichen Anstrengung durch das Radfahren entwickelte Hans-Jürgen ein neues Körpergefühl im Umgang mit Essen. Das Amt des „ Abspülens“ wechselte von Mahlzeit zu Mahlzeit. Hans-Jürgen versuchte zwar täglich aufs Neue, über Notwendigkeit und die Zuständigkeit zu diskutieren; es bestanden jedoch kaum Ausweichmöglichkeiten, da er mit schmutzigem Geschirr nicht essen und kochen wollte.

 

 

Umgang mit Materialien, Taschengeld

 

Fremdem Eigentum gegenüber zeigte er sich nicht sehr achtvoll. So wurden die ihm gestellten Materialien nicht immer mit Sorgfalt behandelte. Rucksack oder Mountainbike landeten öfter mit einem Schubs im Straßengraben. Hans-Jürgen nutzte sein Equipment oft, um seine Aggressionen auf das KAP-Institut und seine für ihn nicht akzeptable Situation in zerstörerischer Absicht zu zeigen. So zog sich die Überquerung der Grenze nach Tschechien auf einer Wegstrecke von nur drei Kilometern über Stunden hin, da Hans-Jürgen nach dem Herausspringen der Kette sein Fahrrad meterweit über die Böschung hinunter beförderte und jegliche Kooperation unter heftigen Beschimpfungen verweigerte. Erst nach Umstellung des pädagogischen Konzepts auf Eigenständigkeit und selbstständiges Zurücklegen der Tagesetappen stellte sich langsam ein stärkeres Verantwortungsgefühl ein, da er nun keine Möglichkeit mehr hatte, bei bewusst verursachten Defekten auf den Betreuer zurückzugreifen. Diese wachsende Verantwortlichkeit entwickelte sich weniger aus der Einsicht heraus, vielmehr aus der Notwendigkeit.

 

Aus dem Zwischenfragebogen von Andreas Muhr (16.01.2002):

„Hinzu kam, dass er durch meine ständige Verfügbarkeit nicht den geringsten Anlass sah, verantwortungsvoll mit Fahrrad und Ausrüstung umzugehen, denn ich würde es dann schon reparieren oder als Puffer dienen.“ „Als Trendwende zum Positiven hin führte die Entscheidung, Hans-Jürgen ganze Tagesetappen allein zurücklegen zu lassen. Seitdem achtet er mehr auf seine Ausrüstung und geht verantwortungsvoller mit seinem Fahrrad um.“

 


Einhalten von Absprachen

 

Hans-Jürgen hatte mehrfach Probleme damit, die vereinbarten Absprachen einzuhalten. Dies trat vor allem dann auf, wenn Hans-Jürgen keine Motivation hatte eine Möglichkeit sah, sich den gestellten Anforderungen zu entziehen. Um seinem Standpunkt mehr Gewicht zu verleihen, vertrat er diesen oft sehr lautstark unter massivem Einsatz von Schimpfwörtern und teilweise auch mit Androhung und Einsatz von körperlicher Gewalt dem Betreuer gegenüber. Auf dem Weg zurück zum Campingplatz forderte Hans-Jürgen Geld vom Betreuer, da er Durst habe. Erklärungen, dass der Tagessatz schon bei weitem überzogen sei und man auf dem Campingplatz dann noch Tee kochen könne, erwiderte Hans-Jürgen mit wüsten Beschimpfungen. Die weitere Konfrontation mit der Thematik endete darin, dass Hans-Jürgen seinen Betreuer heftig schubste und mit Schlägen drohte.
Die täglichen Etappen einzuhalten, stellte vor allem anfangs eine große Problematik dar, da Phasen der Motivationslosigkeit oft zur absoluten Verweigerungshaltung führten und eine Zusammenarbeit nicht möglich war. So passierte es häufig, dass Hans Jürgen sein Fahrrad bewusst beschädigte, um somit eine Zwangspause oder ein vorgezogenes Quartier zu erwirken. Nach Umstellung auf mehr Eigenständigkeit  und auf mehr Distanz zwischen Betreuer und Jugendlichem war in diesem Bereich jedoch ein positiver Trend zu verzeichnen. Da Hans-Jürgen sehr an der Gegenwart seines Betreuers interessiert war, stellt das Einhalten der Tagesziele weiniger ein Problem dar. Obwohl er oft  die Möglichkeit gehabt hätte, schon vor dem vereinbarten Zielort sein Zelt aufzuschlagen oder sich eine geeignete Unterkunft zu suchen, kam er willentlich nur einmal nicht bis zum vereinbarten Ort. 

 

Aus dem Zwischenfragebogen von Andreas Muhr:

„Mittlerweile klappt es mit dem Einhalten der Tagesziele gut. Hans-Jürgen hat sogar einen Streckenrekord von 126 km am Tag  geschafft. Als Trendwende zum Positiven hin wat die Entscheidung verantwortlich, Hans Jürgenganze Tagesetappen alleine zurücklegen zu lassen.“ …“Hans-Jürgen beteiligt sich mittlerweile aktiv an der Streckenplanung und Berechnung der Tagesetattappen. Auch ist er zuverlässig, wenn es darum geht, das jeweilige Ziel zu erreichen. Im Gegensatz zum Anfang der Maßnahme äußert er zwar Unmut, dies jedoch im Normalton und gut kontrollierbar. Größtenteils legen wie die Etappen getrennt zurück, da dies zur Entspannung der häufig sehr belasteten Beziehung beiträgt. Da Hans-Jürgen im Grunde genommen nicht alleine fahren möchte, ist er bestrebt, noch gemeinsam zu frühstücken und dann neu zu starten. Dies beschleunigt sein Zusammenpacken erheblich, so dass wir meist zeitig starten können.“

 


Umgang mit Suchtmitteln(Nikotin, Alkohol)

 

Der Gebrauch von Alkohol und Nikotin war während der ISE- Maßnahme gering, aber dennoch nicht unproblematisch. Obwohl es ganz klar vereinbart war, völlig auf Alkohol zu verzichten, kaufte sich Hans-Jürgen einige Male dennoch Bier, und es interessierte ihn wenig, dass er damit gegen die Abmachungen verstieß. Er verheimlichte dies auch keineswegs, sondern konfrontierte den Betreuer sogar bewusst damit, um ihn zu provozieren. Obwohl auch ein Rauchverbot vereinbart war, wurde diese Regelung dennoch aufgehoben. Hans-Jürgen rauchte schon vor Beginn der Maßnahme sehr viel, und jeder Versuch, ihn darin einzuschränken, bracht ein weiteres Konfrliktfeld mit sich. Immerhin war zu beobachten, dass Hans-Jürgen seinen Zigarettenkonsum zugunsten einer besseren körperlichen Leistungsfähigkeit einschränkte. Auch als positiv zu werten ist die Tatsche, dass er nicht versucht, an andere Suchtmittel (z.B. Joints) zu gelangen, obwohl dies in den größeren Städten unserer Reise von der Beschaffung her kein Problem für ihn dargestellt hätte. Konflikte und Eskalationen traten vor allen Dingen dann auf, wenn sich Hans-Jürgen mit der momentan für ihn unbefriedigenden Situation nicht abfinden wollte. Das Einhalten täglicher Vereinbarungen war häufig der Anlass für Diskussionen und Auseinandersetzungen, obwohl Zuständigkeiten klar geregelt waren. Hans-Jürgen hatte im Laufe seines bisherigen Lebens erlernt, Anforderungen und Konflikten mit verbaler und körperlicher Gewalt zu begegnen, um sich ihnen nicht stellen zu müssen.

 

Aus dem Zwischenfragebogen von Andreas Muhr:

Wie und wann war es besonders schwierig in der Arbeit mit dem Jugendlichen?

„Probleme gab es dann, wenn Hans-Jürgen entweder keine Lust hatte, fest vereinbarte Tätigkeiten zu erledigen, wie beispielsweise Abspülen oder Tagebuch schreiben. Hans-Jürgen hat es in seiner Vergangenheit verinnerlicht, sich bei Anforderungen äußerst lautstark zu äußern und sich zu verweigern. Es ist sehr schwierig, dieses eingefahrene Verhalten aufzuweichen und Hans-Jürgen dennoch zur Erledigung der Aufgabe zu bewegen. Weiterhin gibt es massive Probleme, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen läuft. So z.B. als ich ankündigte, dass wir wegen guter Witterung und sicherem Campingplatz zelten und keine Hütte nehmen. Für Hans-Jürgen war dies ein Anlass, die Situation eskalieren zu lassen. Als weiterer Punkt für schwierige Situationen sind seine bewussten Provokationen anzuführen. Die Bandbreite reicht von Beleidigungen, die im Nebensatz geäußert werden, über respektlose und diskriminierende verbale Angriffe bis hin zu tatsächlichen Angriffen, entweder auf mich oder persönliche Gegenstände von mir. Hans-Jürgen kennt keine Grenzen und zeigt kein Gefühl dafür, ab wann ein Mitmensch verletzt sein könnte. War sein Handeln aus seiner Sicht erfolgreich und hat er es geschafft, mich zu reizen, reagierte er überaus schadenfroh und ist bester Laune.“


Wie zeigt sich Hans-Jürgen, wenn er nicht bekommt, was er will?

„Zunächst bekundet er lautstark seinen Unmut und sucht nach Argumenten, so fadenscheinig sie auch sein mögen. Bleibe ich dann bei meiner Position und behaupte, diese, beginnt Hans-Jürgen mich zu beschimpfen und beleidigen. Zum Einsatz kommen Worte wie: „ Hurensohn, Wichser, Arschloch, Spasti, Behinderter, verpiss Dich…! Wenn sein Aggressionspotential entsprechend hoch ist und ich nicht einlenke  (was in einer solchen Situation nicht vorkommt), ist es schon einige Male vorgekommen, dass Hans- Jürgen mich bedroht (körperlich) und angreift. Mit heftigen Schubsen und auch in einem –Fall Hals packen, versucht Hans-Jürgen dann, seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.“

 

Die sehr heftige Art und Weise, wie Hans-Jürgen im Konfliktfall mit dem Betreuer umgeht, haben das KAP-Institut nach Ablauf von drei Wochen der Radtour zum schwarzen Meer zu einer Umstellung des pädagogischen Konzepts veranlasst. Wir erarbeiteten die Möglichkeit, im Konfliktfall und bei körperlichen Angriffen auf dem Betreuer ein klares STOP- Signal zu setzen und  räumliche Distanz herzustellen um Hans-Jürgen die Gelegenheit zu geben, die Situation nach einigen Stunden des Alleinseins besser aufarbeiten zu können. Dies bewirkte zum einen, dass Hans-Jürgen bewusst wurde, dass die Gegenwart und Verfügbarkeit des Betreuers direkt an sein Verhalten gekoppelt sind. Zum anderen stellte es die dringend erforderliche Entspannung der Atmosphäre zwischen Betreuer und Jugendlichem dar.


Aus dem Zwischenfragebogen von Andreas Muhr

Wie gehst Du dann mit diesen schwierigen Situationen um?

„Da das Aggressionspotential von Hans-Jürgen so hoch ist, dass die Situationen unkontrolliert eskalieren würde, muss ich  umgehend ein „Stop - Signal“ setzen und räumliche Distanz herstellen, da Hans-Jürgen nicht anders zugänglich ist. Nach einer Weile beruhigt sich Hans-Jürgen wieder und in einigen wenigen Situationen war es möglich, mit Hans-Jürgen ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu führen.“

 

Aus dem Zwischenfragebogen von Hans-Jürgen:

Hast du eine andere Idee, mit Vergleichbarem umzugehen, als aggressiv zu werden?

„Also, das Beste ist wohl, weiterhin getrennt fahren, und wenn wir merken, es geht los, einfach für 10 Minuten ins Zimmer gehen und danach über die Situation zu sprechen. Das ist wohl das Beste, was  ich machen kann, und in Zukunft werd ich’s auch so machen.“

 

Aggression und Provokation kann Hans-Jürgen sehr bewusst steuern, um seinen Willen durchzusetzen. Folgende Situation als Beispiel: Hans-Jürgen erreicht den vereinbarten Treffpunkt nach einer Tagesetappe in der Ortsmitte. Er trifft seinen Betreuer, begrüßt diesen mit den Worten: „Gib mir Geld, ich hab Hunger“. Obwohl er seinen Tagessatz schon ausgegeben hat, beharrt er fest auf der Forderung nach mehr Geld. Hinzu kommt, dass er die vom Betreuer geliehene Uhr verloren hat. Der Betreuer setzt ein Stop- Signal, da Hans-Jürgens Verhalten absolut unakzeptabel ist und will gehen. Daraufhin packt Hans-Jürgen ihn am Kragen und fordert: „Gib mir Geld, dann kannst du dich verpissen.“ Zusätzlich versucht Hans-Jürgen, eine Zigarette auf dessen Arm auszudrücken. Diese Situation veranlasste uns zur telefonischen Krisenintervention und einem persönlichen Gespräch zwischen KAP-Leiter (P. Alberter) und Hans-Jürgen, in dessen Verlauf die gelbe Karte ausgesprochen wurde und der Abbruch der Maßnahme  bei weiteren körperlichen Angriffen auf den Betreuer ausgesprochen wurde. In Anschluss an dieses Telefonat konnte Hans-Jürgen für einige Wochen seine Aggressionen weitgehend kontrollieren.


Aus dem Zwischenfragebogen von Hans-Jürgen:

Warum hast Du von Herrn Alberter eine „Gelbe Karte“ gekriegt?

„Weil ich mich gegenüber Andi wirklich beschissen benommen habe. Ich wollte ihn schlagen und habe ihn derb beleidigt, und es tut mir auch leid, und seitdem habe ich auch nichts gemacht.“

 

In den Tagen, bevor Constanta erreicht wurde, kam es jedoch wiederholt zu insgesamt drei körperlichen Angriffen dem Betreuer gegenüber. Jeglicher vereinbarte Rahmen an Toleranz wurde massivst überschritten, wodurch die Maßnahme abgebrochen werden musste. Die täglichen Dokumente per Tagebuch betreib Hans- Jürgen sehr nachlässig und zum Teil äußerst widerwillig oder gar nicht. Intensives Einwirken von Seiten des Betreuers  zeigten manchmal Erfolg, endete jedoch oft  in Auseinandersetzungen und Diskussionen und damit, dass Hans-Jürgen sein Tagebuch gar nicht schrieb. Der Umgang mit Kritik fällt Hans-Jürgen schwer, vor allem wenn sie von seiner eigenen Meinung abweicht. Argumente werden meist widerlegt oder mit einem verbalen Angriff versehen zurückgewiesen. Diese Tatsache erschwert die Kommunikation in kritischen Bereichen sehr, da Hans-Jürgen sich selbst kaum Fehlereingestehen kann.

 

 

Fazit

 

Trotz der Tatsache, dass die Maßnahme abgebrochen werden musste, hat Hans-Jürgen auch positive Erfahrungen gewinnen können, die der Entwicklung seiner Persönlichkeit zuträglich sind. Durch die verschiedenen körperlichen Aktivitäten (Radfahren, Trekkingtouren) war es unumgänglich, dass sich Hans-Jürgens Körperbewusstsein steigert und er an Kondition und Ausdauer gewinnt.

 

Aus dem Zwischenfragebogen von Hans-Jürgen:

Was konntest du bis jetzt alles lernen?

„Zelt aufbauen. Durchhalten und weiterlaufen, auch wenn es weh tut. Wie weit ein Kilometer ist. Sein Ziel setzen und dort ankommen. Und nicht aufgeben. Immer weiterlaufen, es bleibt einem nichts anderes übrig.“ (3. Sep. 2001) …“Ich bin wirklich stolz, was das Fahrradfahren angeht. Ich hab bis jetzt alle Strecken, die wir vorhatten, gefahren. Wir liegen gut in der Zeit. „ (16. Okt. 2001)

 

Die Entwicklung der Selbstständigkeit erfuhr einen starken Fortschritt. Eigenverantwortliches Handeln wurde regelmäßig trainiert.

 

Aus dem Zwischenbericht von Hans Jürgen:

Was hast du bis jetzt geleistet und erlebt?

„Ich habe meine Englischkenntnisse bedeutend verbessert. Ich habe gelernt, mit Geld umzugehen und Fahrräder zu richten, habe gelernt, selbstständig zu sein, habe gelernt, wenn die Kette draußen ist, das Bike nicht gleich in den Graben zu werfen, sondern erst mal es anzuschauen. Ich habe gelernt, selbstständig zu werden. Ich fahr schon ganz schön lange getrennt mit Andi, und ich habe bis jetzt null Probleme gehabt.“

 

Das tägliche Einüben ritueller Abläufe bewirkte eine Automatisierung. So beherrschte er bald das eigenständige packen des Fahrrads, machte sich mit dem Spirituskocher vertraut, so dass er hier eigenverantwortlich handeln konnte. Einige Regeln wurden nach geringer Zeit soweit eingeübt, dass sie teilweise zur Selbstverständlichkeit wurden. Durch sein Verhalten hat Hans-Jürgen den Tagesablauf mitbestimmt und konnte die Auswirkungen positiven Verhaltens direkt erfahren. Vor allem an der Mitgestaltung der täglichen Etappen und der zeitlichen Einteilung hat er sich maßgebliche beteiligt. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Hans-Jürgen mehr zur aktiven Lösung von Konflikten beigetragen hätte. In Gesprächen konnte jedoch kaum eine verbale Formulierung von Lösungsmöglichkeiten erwartet werden. Er zeigte hier wenig Bereitschaft und Engagement  sondern eher Abwehrverhalten und Tendenzen zur Fremd- und Sachaggression. Überforderungssituationen stellten für ihn Stress dar, der häufig verbal und körperlich aggressiv ausgetragen wurde. Hans-Jürgen hat die ISE als Chance gesehen sich selbst zu verändern und kritischer mit seinen Verhaltensweisen (und den damit verbundenen Reaktionen der Umwelt) umzugehen. Manchmal hat er diese Möglichkeiten zur Verhaltensänderung aufgenommen und teilweise umgesetzt. Der Jugendliche hat seinen Körper beim Wandern und Radfahren als leistungsfähig entdeckt. Dies hat sein Selbstbewusstsein gestärkt und ihn zu neuen Leistungen motiviert.

 

Auszug aus dem Zwischenbericht von Hans- Jürgen:

„Dem Andi sein Rekord liegt bei 110 km. Mein Rekord liegt bei 126 km, damit habe ich den Kaprekord gebrochen. Und das Beste ist, es ging fast 30 km nur bergauf. Ich bin stolz auf mich und ich glaub, dass kann ich auch sein.“

 

Die Reise durch fremde Länder ermöglichte Hans-Jürgen das Kennenlernen anderer, auch ärmerer Lebensverhältnisse, fremder Sitten und Gebräuche und die Kontaktaufnahme zu den dort wohnenden Menschen.

 

Aus dem Zwischenbericht Hans- Jürgen:

Was war Deine schönste Etappe?

„Also wirklich die besten Etappen waren die letzen sechs Tage durch Rumänien. Es war wirklich spitze. Die kleinen Kinder grüßen dich, die Opas ziehen ihre Mützen ab. Ich muss sagen, obwohl Rumänien arm ist, sind sie tausendmal besser als die Deutschen. Sie zeigen Respekt. Sie interessieren sich für die Sache, die wie hier durchziehen. Das ist wirklich das schönste Land, das es gibt."

 

 

Perspektiven und Aussichten

 

Hans-Jürgen muss viel an sich arbeiten und endlich seinen inneren Schweinehund überwinden. Die Kontrolle seiner Verhaltensweisen braucht Disziplin und Willensstärke seinerseits. Regelmäßiger Sport wäre wünschenswert und eine Möglichkeit, seine Energien kontrolliert zu steuern. Zentrales Thema dürfte jetztdie Schule sein. Sein positives Verhalten, das er zuhause ider in der Heimgruppe bisher noch kaum zeigte, muss verfestigt werden und sich im Alltag bestätigen. Hier braucht Hans-Jürgen weitere Unterstützung. Über eine ambulante Betreuung müsste nachgedacht werden. Während der gesamten ISE kannte Hans-Jürgen seine persönlichen Grenzen  erreichen und durch die positive Bestätigung mehr Selbstvertrauen und Eigenverantwortlichkeit aufbauen. Ansatzweise war er auch in der Lage, Schwächen wahrzunehmen und für sich neu zu formulieren. Die verschiedenen natursportlichen Aktivitäten  eröffneten ihm  eine neue Quelle der Freizeitbeschäftigung und der sinnvollen Tagesgestaltung. Hierbei bräuchte Hans- Jürgen ebenfalls Unterstützung und Motivation. Unseres Erachtens müsste Hans- Jürgen, um seine impulsiven Aggressionsspitzen und Wutausbrüche unter Kontrolle zu bekommen, eine medikamentöse Unterstützung haben. Hierzu müsste Hans- Jürgen in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt werden. Das unterstützende Medikament darf hierbei aber keinerlei Suchtpotential (z.B. Ritalin) enthalten.


Zusammenfassend kann man sagen, wenn Hans-Jürgen sich nicht um 180 Grad ändert und endlich gesellschaftliche und persönliche Grenzen  seines Umfeldes (Familie, Freunde,…) akzeptiert, begibt er sich auf direktem Weg in den Strafvollzug. Letztendlich wird man das Umfeld, auch seine Mutter und seinen Stiefvater, vor Hans-Jürgen schützen müssen, indem Hans-Jürgen seine Freiheit entzogen wird. Erfahrungsgemäß wird seine Gewaltproblematik mit seinen Wünschen und seinem „Durst nach mehr“ zunehmen. Es sei denn, Hans-Jürgen erkennt seine Chance, beginnt an sich zu
arbeiten und versucht seine gesteckten Ziele umzusetzen. Wie sich Hans-Jürgen in den nächsten Wochen / Monaten verhalten wird, wissen wir nicht. Wir wünschen ihm und seiner Familie alles Gute, wagen aber keine Zukunftsprognose abzugeben.

 

 

Zwischenfragebogen auf der Mountainbiketour von Regensburg nach Istanbul


Rumänien, den 16.10.01

Fragen: Peter Alberter,

Antworten: Andreas Muhr Intensiv Betreuer

 

1. Wie geht es Dir?

Mir geht es gut und ich fühle mich wohl mit meiner Aufgabe. Obwohl die Zusammenarbeit mit Hans-Jürgen sich häufig als sehr schwierig bezeichnen lässt, so freut es mich, wenn andererseits erste Fortschritte zu verzeichnen sind. in den vergangenen beiden Wochen musste ich zudem für mich die Entscheidung treffen, ob ich nach der Ankunft am Schwarzen Meer mit Hans-Jürgen auch wieder den Rückweg per Fahrrad übernehmen werde. Diese Entscheidung zu fällen, war nicht leicht, da sie meine Beziehung vor neue Tatsachen stellt. Mittlerweile hat sich die Entscheidung gefestigt und verschafft mir einen Motivationsschub.

 

2. Was hast Du bis jetzt erlebt und geleistet?

Auf unserem bisherigen Weg haben wir seit unserer Abfahrt in Deutschland die Länder Tschechien, Slowakei, Ungarn passiert und sind seit einer Woche in Rumänien unterwegs. Ich habe sehr viele Strapazen, mehr in Form von psychischer Belastung, durchlebt. Aber ich hatte auch viele schöne Erlebnisse und interessante Begegnungen mit verschiedensten Menschen. Im laufe der zwei Monate, die ich jetzt mit Hans-Jürgen arbeite, ist es mir gelungen, zu ihm eine Beziehung aufzubauen, die einen partnerschaftlichen Charakter hat und den nötigen Respekt voreinander beinhaltet, auch wenn Hans-Jürgen damit bisweilen seine Probleme hat. Diese Beziehung würde ich als die Basis für weiteres pädagogisches Einwirken bezeichnen. Ich bewerte es als Erfo!g, dass Hans-Jürgen es mittlerweile schafft, die vereinbarten Tagesetappen zurückzulegen, trotz vorhandener Motivationsprobleme.

 

3. Wie klappt das Reiseprojekt mit Hans-Jürgen?

Mittlerweile klappt es mit dem Einha!ten der Tagesziele gut. Hans-Jürgen hat sogar einen Streckenrekord von 126 km am Tag geschafft. Als Trendwende zum Positiven hin war die Entscheidung verantwortlich, Hans-Jürgen ganze Tagesetappen alleine zurücklegen zu lassen. Seitdem achtet er mehr auf seine Ausrüstung und geht verantwortungsvoller mit seinem Fahrrad um. Mittlerweile habe ich keine Zweifel mehr, das Schwarze Meer zu erreichen. Als Hürde steht noch bevor, dass Hans-Jürgen durch die Verlegung des Zielorts nach Istanbul noch Motivationsprobleme hat, die Reststrecke mit dem Fahrrad zurückzulegen. Auch die Tatsache, dass er noch darüber hinaus bis zum Frühjahr unterwegs ist, ist immer wieder Anlass für heftige Unmutsäußerungen. Die Aufarbeitung der neuen Situation wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

 

4. Was war Dein schönster Abschnitt?

Die Durchquerung der niederen und hohen Tatra in der Slowakei war landschaftlich gesehen sehr reizvoll. Jedoch wurde dies von der Maramuresch, in der wir uns seit fünf Tagen aufhalten, noch übertroffen. Diese bergige Region mit sehr urtümlichen Dörfern ist an Reiz kaum zu übertreffen. Auf den Straßen sind mehr Pferdefuhrwerke als motorisierte Fahrzeuge unterwegs. Beim Durchfahren winken einem die Kinder zu und nahezu alle Bewohner sind freundlich, nett und aufgeschlossen. Dies erleichtert die Kontaktaufnahme trotz der vorhandenen Sprachbarrieren. Und ich bin erfreut darüber, dass sich die überwiegend negativen Vorbehalte gegen Rumänien, die ich zu Genüge gehört habe, nicht bewahrheitet haben.

 

5. Was war die schwierigste Zeit?

Die schwierigste Zeit war für mich die Anfangszeit, in der ich Hans-Jürgen noch nicht alleine lassen konnte. Ich hatte keine Möglichkeit, mich gegen seine Angriffe, sei es auf Grund seiner schlechten Laune heraus oder bewusste Provokationen, abzugrenzen. Auch verschärfte Appelle zeigten nicht die geringste Wirkung und die Ankündigung von Sanktionen ließ die Situation oft in den Grenzbereich oder darüber hinaus eskalieren. Hinzu kam, dass er durch meine ständige Verfügbarkeit nicht den geringsten Anlass sah, verantwortungsvoll mit Fahrrad und Ausrüstung umzugehen, denn ich würde es dann schon reparieren oder als Puffer dienen. Hans- Jürgen's Verfassung war derart desolat, dass sämtliches pädagogisches Repertoire absolut keine Wirkung zeigte.

 

6. Wie und wann war es besonders schwierig in der Arbeit mit dem Jugendlichen Hans-Jürgen?

Probleme gab es dann, wenn Hans-Jürgen entweder keine Lust hatte, fest vereinbarte
Tätigkeiten wie beispielsweise Abspülen oder Tagebuch schreiben zu erledigen. Hans-Jürgen hat es in seiner Vergangenheit verinnerlicht. sich bei Anforderungen äußerst lautstark zu äußern und sich zu verweigern. Es ist sehr schwierig. dieses eingefahrene Verhalten aufzuweichen und Hans-Jürgen dennoch zur Erledigung der Aufgabe zu bewegen. Weiterhin gibt es massive Probleme, wenn etwas nicht nach Hans-Jürgen's Vorstellungen läuft, wie z. B. eine Situation, in der ich ankündigte, dass wir wegen guter Witterung und sicherem Campingplatz zeigten und keine Hütte nehmen. Für Hans-Jürgen war dies ein Anlass, die Situation eskalieren zu lassen. Als dritter Punkt für schwierige Situationen sind seine bewussten Provokationen anzuführen. Die Bandbreite
reicht von Beleidigungen, die im Nebensatz geäußert werden, über respektlose und diskriminierende verbale Angriffe hin zu tatsächlichen Angriffen, entweder auf mich oder persönliche Gegenstände von mir. Hans-Jürgen kennt keine Grenzen und zeigt kein Gefühl dafür, ab wann ein Mitmensch verletzt sein könnte. War sein Handeln aus seiner Sicht erfolgreich und hat er es geschafft. mich zu reizen, reagiert er überaus  schadenfroh und ist bester Laune.

 

7. Wie zeigt sich Hans-Jürgen, wenn er nicht bekommt, was er will?

Zunächst bekundet er lautstark seinen Unmut und sucht nach Argumenten, so fadenscheinig sie auch sein mögen. Bleibe ich dann bei meiner Position und behaupte diese, beginnt Hans-Jürgen mich zu beschimpfen und zu beleidigen. Zum Einsatz kommen Worte wie: "Hurensohn, Wichser, Arschloch, Spasti, Behinderter, verpiss dich...! Wenn sein Aggressionspotential dementsprechend hoch ist, und ich nicht einlenke (was in einer solchen Situation nicht vorkommt), ist es schon einige Male vorgekommen, dass Hans- Jürgen mich bedroht (körperlich) und angreift. Mit heftigem Schubsen und auch in einem Fall am Hals packen, versucht Hans-Jürgen dann, seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.

 

8. Wie gehst Du dann mit diesen schwierigen Situationen um?

Da das Aggressionspotential von Hans-Jürgen so hoch ist, dass die Situation unkontrolliert eskalieren würde, muss ich umgehend ein "Stop - Signal" setzen und räumliche Distanz herstellen, da Hans-Jürgen nicht anders zugänglich ist. Nach einer Weile beruhigt sich Hans-Jürgen wieder und in einigen wenigen Situationen war es möglich, mit Hans-Jürgen ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu führen. Bisweilen ist es für mich sehr anstrengend, angesichts der massiven Beleidigungen und Angriffe kühlen Kopf zu bewahren. Doch mittlerweile habe ich zum Selbstschutz für solche Situationen genügend professionelle Distanz aufgebaut, um mit diesen Belastungen fertig zu werden.

 

9. Warum dreht Hans-Jürgen zwischenzeitlich immer durch?

Mit diesen Aktionen versucht Hans-Jürgen seinen Willen durchzusetzen, wenn er auf Gegenwehr oder Konfrontation stößt. Seinen Erzählungen und Schilderungen vom familiären Zusammenleben und dem Umgang mit Freunden zufolge, sind seine Verhaltensmuster das gängige Mittel, um zu bekommen, was er will. Bei dem hohen Aggressionspotenzial und seiner körperlich massigen Erscheinung ist leicht nachzuvollziehen, dass ihm dies in der Vergangenheit meist gelungen ist.

 

10. Was klappt gut in der Zusammenarbeit mit Hans-Jürgen?

Hans-Jürgen beteiligt sich mittlerweile aktiv an der Streckenplanung und Berechnung der Tagesetappen. Auch ist er zuverlässig, wenn es darum geht, das jeweilige Ziel zu erreichen. Im Gegensatz zum Anfang der Maßnahme, äußert er zwar Unmut, dies jedoch im Normalton und gut kontrollierbar. Größtenteils legen wir die Etappen getrennt zurück, da dies zur Entspannung der häufig sehr belasteten Beziehung beiträgt. Da Hans-Jürgen im Grunde genommen nicht alleine fahren möchte, ist er bestrebt, noch gemeinsam zu frühstücken und dann zu starten. Dies beschleunigt sein Zusammenpacken erheblich, so dass wir meist zeitig starten können. Gut funktioniert auch meist die Freizeit- bzw. Abendgestaltung, sofern dies nicht mit körperlicher Anstrengung verbunden ist. Hans-Jürgen hat es mittlerweile gelernt, seinen ausbezahlten Tagessatz vernünftig einzuteilen, was immer häufiger gelingt.

 

11.  Was macht die Zusammenarbeit mit Hans-Jürgen so schwierig?

Hans-Jürgen weiß sehr genau, wie er seine Mitmenschen in Form von Beleidigungen und Provokationen an ihre Grenzen bringen kann und genießt es, wenn er darin erfolgreich ist. Zudem ist er nicht im Geringsten der Ansicht, dass sein Sozialverhalten erhebliche Auffälligkeiten aufweist. Dies ist momentan die größte Schwierigkeit und erschwert die Zusammenarbeit erheblich. Auch das vorher schon erwähnte Aggressionspotenzial beeinträchtigt sein zielgerichtetes Arbeiten erheblich.

 

12. Was wünschst Du Dir von Hans-Jürgen?

Mein größter Wunsch ist es, dass Hans-Jürgen seine Angriffe und Provokationen auf
meine Person kontrolliert und einstellt. Gefolgt von dem Wunsch, dass Hans-Jürgen begreift, worin der Sinn der Maßnahme besteht und sich einsichtiger zeigt (und ist).

 

13. Welche Konsequenzen habt ihr aus den verbalen und durchgeführten Gewaltattacken gezogen?

Bei einem nochmaligen körperlichen Angriff führt dies zum Abbruch der Maßnahme. Dies wurde mit Peter Alberter abgesprochen und Hans-Jürgen auch von meiner Seite aus eindringlich verkündet. Für verbale Angriffe und Provokationen gilt folgende Vereinbarung: Stellt Hans- Jürgen sie nicht auf meinen Appell hin ein, werde ich ein "Stop-Signal" aussprechen und mich distanzieren.

 

14. Welches Ziel hast Du Dir im Umgang mit Hans- Jürgen vorgenommen?

Weiterhin einen partnerschaftlichen Umgang zu pflegen, da dies wichtig für die Beziehung zwischen uns ist. Den Schwerpunkt werde ich auf problematisches Sozialverhalten legen und hier noch konsequenter auf verbale Verfehlungen reagieren. Vor allem ist es mir wichtig, in Konfliktsituationen ruhig und besonnen, jedoch mit klar verständlichen Signalen zu reagieren.

 

Zwischenfragebogen – Hans- Jürgen, 15 Jahre

1. Wie geht es dir?

Mir geht es eigentlich ganz gut bis auf meinen Schnupfen, der seit der Slowakei an mir hängt und nicht mehr gehen will. (Der mag mich wohl) Ein bisschen schlechtes Gewissen habe ich , weil ich Andi etwas sehr fies gegenüber war. Aber ich hab´s kapiert, ich werd´s nicht mehr tun. Ich bin auf der Besserung. Ich werd zurück kommen als das Gegenteil, wie ich losgefahren bin.

 

2. Was hat Du bis jetzt geleistet und erlebt?

Ich habe viele Leute kennengelernt. Der größte Teil (99%) waren voll cool drauf, freundlich und super nett Ich habe meine Englischkenntnisse bedeutend verbessert. Ich habe gelernt, mit Geld umzugehen, habe gelernt, mit Fahrräder zu richten, habe gelernt, selbständig zu sein, habe gelernt, wenn die Kette draußen ist, das Bike nicht gleich in den Graben zu werfen. Ich habe gelernt, selbständig zu werden. Ich fahr schon ganz schön lange getrennt mit Andi und ich habe bis jetzt null Probleme gehabt. Nur an meinen wirklich massiven Ausrastern muss ich noch arbeiten, aber ich glaub, ich pack´s, ich zieh das hier durch.

 

3. Wie klappt das Fahrradfahren?

Ich bin wirklich stolz, was das Fahrradfahren angeht. Ich hab bis jetzt alle Strecken, die wir vorhatten, gefahren. Wir liegen gut in der Zeit. Andi sein Rekord liegt bei 110 km. Mein Rekord liegt bei 126 km, damit habe ich den KAP – Rekord gebrochen. Und das Beste ist, es ging fast 30 km nur bergauf. Ich bin stolz auf mich, und ich glaub, das kann ich auch sein.

 

4. Was war Deine schönste Etappe?

Also wirklich die Besten Etappen waren die letzten sechs Tage durch Rumänien. Es war wirklich spitze. Die kleinen Kinder grüßen dich, die Opas ziehen ihre Mützen ab. Ich muss sagen, obwohl Rumänien arm ist, sind sie tausendmal besser als die Deutschen. Sie zeigen Respekt. Sie interessieren sich für die Sache die wir hier durchziehen. Das ist wirklich das schönste Land, das es gibt.

 

5. Warum hast Du von Herrn Alberter eine „Gelbe Karte“ gekriegt?

Weil ich gegenüber Andi mich wirklich beschissen benommen habe. Ich wollte ihn schlagen und habe ihn derb beleidigt, und es tut mir auch leid, und seitdem hab ich auch nichts gemacht.

 

6. Warum gibt es immer wieder massive Auseinandersetzungen mit Dir?

Ich muss sagen, dass „immer wieder“ so nicht ganz stimmt. Ich bin bis jetzt drei mal massiv geworden, aber mehr nicht. Und das ist das, was mich sauer macht, ihr übertreibt, dass es kein Ende gibt. Die Punkte, warum wir streiten, sind eigentlich immer nur wegen KAP. Die haben mich sehr enttäuscht, muss ich sagen. Ich bin schon sauer, aber ich werde mich hüten, noch irgendetwas anzustellen.

 

7. Warum bist Du gegenüber Andi so aggressiv und verletzend?

Tja, ich kann die Frage eigentlich nicht richtig beantworten. Ich denke, es liegt daran, dass ich ganz am Anfang so spät Bescheid bekommen habe. Ich hab es eigentlich gar nicht wahrgenommen, dass es schon in drei Tagen losgeht. Und ich denke mal, es liegt daran, dass wenn man mit einem täglich zusammen ist, streitet man sich halt, das kommt bei den besten Freunden vor.


8. Hast Du eine andere Idee, mit Vergleichbarem umzugehen, als aggressiv zu werden?

Also, das Beste ist wohl, weiterhin getrennt fahren, und wenn wir merken, es geht los, einfach für zehn Minuten ins Zimmer gehen und danach über die Situation zu sprechen. Das ist wohl das Beste, was ich machen kann, und in Zukunft werd ich' s auch so machen.

 

9. Welche Konsequenzen habt ihr aus der Situation gezogen?

Ja, die gelbe Karte von KAR und wir haben halt ausgemacht, dass es nicht mehr passiert.
Und ich werde mich ändern. Das war wirklich scheiße von mir, das hab ich begriffen, und ich bin auf dem Weg der Besserung.

 

10. Wie geht es mit Dir weiter?

Also der Herr Alberter hat gemeint, wenn ich mich benehme bis nach Istanbul, kann ich ein paar Wochen nach Hause. Ich hab mich damit abgefunden, dass ich ins Heim gehe. Aber was ich jetzt gehört habe, von wegen nach Italien fahren, das muss ich mir noch genau überlegen. Ich will nach Hause zu meinen Freunden, meiner Freundin und meiner Familie. Und deshalb strenge ich mich an. Und wenn ich mich bis nach Istanbul benehme, werde ich mit meinen Eltern nach Hause fliegen, und das werd ich auch durchsetzen, das können die mir glauben. Ich fühl mich sowieso verarscht genug, und  diesmal wird es nicht mehr so sein.


11. Was nimmst Du Dir bis nach Istanbul vor?

Ich werd mich zusammenreißen, werde mein Ding drehen, das ich mir geschworen habe. Ich weiß jetzt, wenn ich mich benehme, bin ich früher daheim. Und ich werde mich benehmen. So ist es nun mal, wie schon gesagt" ich werde als das Gegenteil kommen, wie ich gefahren bin. Also, das war s von mir.