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"Kein Urlaub unter Palmen - Wenn Jugendhilfe an ihre Grenzen stößt" (Manuskript)

radioFeature


Bayern2Radio
Samstag, 17. Sept. 2005        16.00 - 17.00 Uhr
Sonntag, 18. Sept. 2005         20.00 - 21.00 Uhr
                
       

Kein Urlaub unter Palmen
Wenn Jugendhilfe an ihre Grenzen stößt


Von Klaus-Dieter Schuster

Redaktion und Regie: Oliver Boeck

Sprecher: Jürgen Jung  

 

 
Zusp. 1: Kerstin/Peter/Anja:
„Also ich bin hier, weil ich mit meinen Eltern nicht mehr klargekommen bin. Ich hatte ziemlich viel Stress daheim. Da bin ich abgehauen von zu Hause und bin drei Tage nicht heimgegangen. Dann habe mich meine Eltern ins Internat getan. Also ich bin mindestens sechsmal also fast jeden Tag abgehauen vom Heim.

 

„Ich habe Scheiße in dem Heim gebaut, wo ich war, in so einer Familie. Bin mit dem Traktor gefahren und so das war ein Bauernhof – unerlaubte Sachen. Ein paar Sachen habe ich auch kaputtgemacht und mit der Erzieherin habe ich mich nicht verstanden und dann hat es Auseinandersetzungen gegeben und dann hat es geheißen, ich solle nach KAP gehen. Das war meine letzte Chance und die nutze ich.“

 

„Ich hatte eben Probleme mit Drogen und bin dann auf Entgiftung gekommen und von da aus weiter nach Italien. Es war gezwungenermaßen auf einen richterlichen Beschluss hin und da ich nicht volljährig war, hieß es eben, dass ich Therapie machen muss oder eben in der Geschlossenen bleib, bis ich 18 bin und dann habe ich mich eben für die Therapie entschieden.“

 

Spr.:

Kerstin und Peter sind 16, Anja ist 20. Sie waren in erlebnispädagogischen Projekten, die beiden Mädchen im Ausland – Portugal und Italien. Solche Projekte sollen Jugendlichen eine letzte Chance geben, wenn Heimerziehung, Jugendpsychiatrie, betreutes Wohnen in kleinen Gruppen oder andere Maßnahmen keinen Erfolg bringen. Jährlich werden in Deutschland 300 bis 400 Jugendliche auf mehr als 250 erlebnispädagogische Projekte verteilt. Vor allem seit Februar 2004, als in Griechenland ein 14-Jähriger seinen Betreuer umbrachte, ist dieses Erziehungsangebot in die Diskussion geraten. Politiker wie die bayerische Sozialministerin Christa Stewens sprachen von „Urlaub unter Palmen für Straftäter“.

 

Was aber heißt Erlebnispädagogik? Der Begriff ist noch nicht eindeutig definiert, da bis heute eine tragfähige theoretische Fundierung aussteht – hier ist die Praxis weiter als die pädagogische Theorie …

Was sich für den Praktiker dahinter verbirgt, beschreibt Peter Alberter, Heil- und Erlebnispädagoge und Leiter des Instituts für kooperative Abenteuerprojekte in Regensburg:

 

Zusp. 2:

„Erlebnispädagogik heißt: draußen sein mit jungen Menschen und gemeinsam unterwegs sein, Aufgaben bewältigen, fürs Leben lernen.“

 

Spr.:

Mit Erlebnispädagogik wird in vielen Ländern gearbeitet, zum Beispiel in den USA, Australien, Neuseeland und England. In Deutschland wird sie seit ca. 15 Jahren praktiziert. Als handlungsorientierte Methode will sie durch Lernprozesse, in denen Jugendliche vor körperliche, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, die Persönlichkeitsentwicklung fördern sowie die Fähigkeit, das Leben verantwortlich zu gestalten. Aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, dass Menschen vor allem dann lernen, wenn sie nicht nur kognitiv, sondern auch emotional gefordert sind. Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur herkömmlichen Pädagogik, so der Sozialpädagoge Werner Michl von der Fachhochschule Nürnberg:

 

Zusp. 3:

„Die Erlebnispädagogik bewegt sich ja in ganz anderen Räumen und auch in ganz anderen Zeiten. Also: Dunkelheit, Dämmerung und Nacht spielen in der normalen Pädagogik keine Rolle, aber in der Erlebnispädagogik, weil sie draußen im Schlafsack irgendwo übernachten. Und da öffnen sich die Herzen. Das wissen wir, am Lagerfeuer oder draußen in der Natur, wenn die Sterne scheinen, öffnen sich die Herzen. Auch bei einem Jugendlichen kann das passieren, der wirklich straffällig ist und schwierig ist, kann es passieren, dass es wieder Anknüpfungspunkte gibt, und das muss der Pädagoge auch merken.“

 

Spr.:

Solche Erlebnisse wirken aber nicht automatisch, sondern erst, wenn sie pädagogisch instrumentalisiert werden. Der Ort und die Betreuung müssen für den Jugendlichen maßgeschneidert sein. Mit „Kuschelpädagogik“ – wie Kritiker spöttisch meinen – hat das wenig zu tun. Es geht um die Vermittlung von Fähigkeiten und Werten - und auch um Grenzziehung.

 

Zusp. 4:

„Ich halte eigentlich nichts von einer Laissez faire-Pädagogik, um das klar festzustellen. Wir haben immer noch so Auswirkungen der 68er Zeit mit einer zu fahrlässigen Pädagogik, sag ich mal. Ich halte schon etwas von einer Pädagogik, die konsequent ist, wo Ursache und Wirkung festgehalten werden und wo Werte definiert werden, wo Erzieherinnen und Erzieher ihre Grenzen definieren, wo Pflichten und Rechte notwendig sind, davon halte ich sehr viel...“

 

Spr.:

Erlernt werden sollen vor allem: Eigenverantwortlichkeit, Konfliktfähigkeit, Lernmotivation, Kommunikation, Offenheit sowie die Achtung von Normen und Grenzen. Kontrovers diskutiert wird derzeit die sogenannte Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) für Jugendliche, die laut Gesetz besonderer Unterstützung zur sozialen Integration und eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen und deshalb über einen längeren Zeitraum von einem besonders geschulten Pädagogen begleitet werden; im Fachjargon: „1:1-Betreuung“.

 

Es geht dabei um eine kleine, aber sehr problematische Gruppe. Häufige Verhaltensauffälligkeiten sind hohe Aggressivität, fehlende Selbstkontrolle, Drogenkonsum, Streunen, kriminelle Delikte und Prostitution. Dazu kommen langfristige Schulverweigerung sowie massive Konflikte mit den Eltern, die durch ambulante Beratung oder Unterstützung nicht mehr zu lösen sind.

 

Zusp. 5:

„Es ist gedacht für junge Menschen, für Jugendliche so ab dem 14. Lebensjahr, wo alle anderen Bemühungen gescheitert sind, die vorher in der Erziehungsberatung, in Erziehungsbeistandschaft waren, die in der Heimerziehung waren, wo Heime sich auch weigern, die wieder aufzunehmen, die viele Straftaten begangen haben, aber noch nicht strafmündig sind. Also einen Bodensatz von jungen Menschen, wo wir pädagogisch ein wenig ohnmächtig sind.“

 

Spr.:

Der Hintergrund für diese Verhaltensmuster sind meist äußerst belastende Lebensumstände in der Familie wie Vernachlässigung, Gewalttätigkeit, Suchtprobleme und sexueller Missbrauch. Für viele gibt es dann als letzte Alternativen Psychiatrie, geschlossener Unterbringung in einem Heim oder erlebnispädagogische Angebote. Für wen besonders letztere geeignet sind, beschreibt Ulrich Rüth, Oberarzt und Psychiater an der Heckscher Klinik in München:

 

Zusp. 6:

„Die Erlebnispädagogik ist aus meiner Erfahrung das bessere Angebot für diejenigen Kinder, die immer wieder weglaufen. Weil man auch aus einem geschlossenen Heim weglaufen kann.“

 

Spr.:

Deshalb finden viele dieser Projekte in entlegenen Gegenden im Ausland statt, wo es kaum Möglichkeiten zum Weglaufen gibt. Wichtig ist aber vor allem die enge 1:1 Betreuung.

 

Zusp. 7:

„Die Jugendlichen werden bei ihren eigenen Interessen genommen. Eine erlebnispädagogische Maßnahme wird ja auch zusammen mit dem Jugendlichen entschieden, es ist ein freiwilliges Angebot, das braucht Kooperation, das heißt der Jugendliche muss ein gewisses Interesse aufbringen, für das, was ihm dann angeboten wird, und es gibt es ja die verschiedensten Möglichkeiten, Fahrradtouren oder Segelprojekte oder zum Beispiel Standprojekte mit Tieren und dergleichen. Das heißt, das Angebot selber soll Interesse und Motivation des Jugendlichen wecken und über den Weg ihn zu einer Kooperation bringen bis zu einer Veränderung seines Verhaltens.“
Spr. Das hört sich einfach an, ist aber meist ein sehr langwieriger Prozess. Die Jugendlichen und ihre Eltern sitzen mit einem Vertreter des Jugendamts am Tisch, und man versucht so etwas wie ein Arbeitsbündnis zu schließen, festzulegen, welche Maßnahmen am besten erscheinen. Der oder die Jugendliche muss bereit sein, mitzuwirken. Oft besteht kein Vertrauen mehr gegenüber Erwachsenen und dem Jugendamt. Dazu kommt, dass die Jugendlichen ihre vertraute Umgebung, ihre Clique keinesfalls aufgeben wollen; doch erlebnispädagogische Auslandsmaßnahmen haben ja gerade zum Ziel, eine radikale Distanz zur bisherigen Lebenswelt zu schaffen. Georg Hopp vom Jugendamt München führt in solche Projekte ein:

 

Zusp. 8:

„Das dauert oft und erfordert viele Gespräche, erfordert Wertschätzung, Achtung der Jugendlichen, aber auch ein Konfrontieren mit den Themen, die sie letztendlich bedrücken, unter denen sie leiden. Und da haben wir schon recht gute Erfolge, dass man die Jugendlichen auf „freiwilliger Basis“ dafür gewinnt.“

 

Spr.:

Die Jugendlichen gehen zwar freiwillig, dennoch gibt es einen gewissen Druck, denn in ein geschlossenes Heim will keiner - und sie empfinden so eine Maßnahme als den einfacheren Weg. Wenn man jedoch erst mal in einem Projekt ist, bedeutet das ebenfalls eine Einschränkung der Freiheit. Manchmal ist es auch mit ganz rigorosen Schritten verbunden, so wie bei Kerstin, die bis dahin aus allen Heimen weggelaufen war:

 

Zusp.9:

„Weil hier Zeiten waren, da durfte ich gar nichts, da bin ich wirklich abgegrenzt gewesen, ich habe meine Eltern ein Jahr lang nicht sehen dürfen, ich habe ein Jahr lang keinen Kontakt mehr gehabt zu meinen Freunden. Ich wurde abends zum Beispiel, dass ich nicht abhauen konnte, ins Zimmer eingesperrt, damit ich nicht raus kann.“

 

Spr.:

Werden damit aber nicht Misserfolge in Kauf genommen? Werner Michl ist Realist:
Zusp. 10: „Es ist eine der letzten Möglichkeiten die wir haben. Es ist nicht vorprogrammiert. Aber natürlich kann man nicht sagen, dass sozusagen automatisch ein Erfolg zu erwarten wäre von diesen Maßnahmen. Das muss man nämlich voraussetzen, dass wir es mit den Schwierigsten der Schwierigen zu tun haben. Dann machen wir solch eine ISE und sind froh wenn wir im Schnitt 60, 70 Prozent Erfolg haben. Und Erfolg kann auch sein, dass ein junger Mensch, der vorher drogenabhängig war, der sich prostituiert hat, wenigstens einigermaßen in eine berufliche Laufbahn kommt, vielleicht sogar Partnerschaft usw. das wären so kleine Erfolge.“

 

Spr.:

Allerdings sind bisher die Wirkungen solcher Projekte zu wenig überprüft worden. Dazu Christian Lüders, Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe am Deutschen Jugendinstitut München:

 

Zusp.11:

„Die Auslandprojekte stellen da keine Sonderrolle dar, sondern es gibt im gesamten Bereich der erzieherischen Hilfen bislang sehr wenige Projekte, die fragen: was passiert eigentlich danach mit den Jugendlichen? Die meisten Wirkungsevaluationen beziehen sich auf die Phase, während die Kinder und Jugendlichen in den Maßnahmen sind, aber sozusagen Langzeitstudien, follow-up-Studien danach, wo sind die Jugendlichen geblieben, was ist die Situation der Jugendlichen ein, zwei Jahre danach oder noch länger, gibt es bislang im gesamten Bereich der Kinder und Jugendhilfe und vor allem der erzieherischen Hilfen sehr wenig.“

 

Spr.:

Datenschutzrechtliche Probleme sind die eine Ursache dieses unbefriedigenden Zustands...

 

Zusp. 12:

„Die zweite Ursache besteht darin, dass es methodisch nicht ganz einfach ist zu sagen: ich habe eine pädagogische Maßnahme und nach einem Jahr hat sich die Lebenssituation so und so verbessert und das hängt eindeutig mit dieser Maßnahme zusammen, weil da immer sehr viel Einflüsse eine Rolle spielen können. Der kann eine neue Freundin bekommen haben und schon ändert sich sein Leben und dann war es eben nicht unbedingt die pädagogische Maßnahme, sondern die Freundin, obwohl er die Freundin vielleicht in der pädagogische Maßnahme kennen gelernt hat. Also es gibt methodische Probleme. Und zum Dritten: Es gibt in der Bundesrepublik sicher anders als in angelsächsischen Ländern keine wirklich etablierte Kultur, Wirkungsanalysen nicht nur im pädagogischen Bereich, sondern auch im gesamten sozialen Dienstleistungsbereich durchzuführen. Wir fangen gerade damit an.“

 

Spr.:

Muss sich dann aber die Jugendhilfe nicht gerade in Zusammenhang mit den erlebnispädagogischen Projekten den Vorwurf gefallen lassen, dass man nicht genau weiß, was wirklich geschieht?

 

Zusp.13:

„Ich glaube, dass an dem Vorwurf insofern etwas Wahres dran ist, als wir nicht auf wirklich belastbare empirisch-sozialwissenschaftlich gesicherte Daten zurückgreifen können. Der Vorwurf ist falsch, wenn man sich die Praxis anschaut, weil die Praktiker in den Einrichtungen, in den Jugendämtern schon über relativ viel Wissen verfügen, was mit ihren Adressaten passiert; und sie können das sehr wohl einschätzen, sonst wären ja auch Entscheidungen gar nicht begründbar.“

 

Spr.:

Ein paar statistische Angaben: Eine repräsentative Studie hat herausgefunden, dass der Anteil der erlebnispädagogischen Projekte an den Erziehungshilfen bundesweit zwischen 1,5 und 2,2% liegt. In München befinden sich gegenwärtig 32 Jugendliche in solchen Maßnahmen, das sind 2 Prozent der 1485 Kinder und Jugendlichen, die verschiedene Formen von stationären Hilfen in Anspruch nehmen.

 

Im Münchner Jugendamt dauern solche Projekte im Durchschnitt 8 bis 12 Monate, manchmal auch länger; die Kosten liegen zwischen 150 und 220 Euro am Tag, ein geschlossenes Heim dagegen kostet 230 bis 270 Euro. Die Jugendlichen werden nur in ganz wenige Projekte in Europa geschickt, vorwiegend nach Italien, Portugal und Ungarn; diese Träger sind überprüft, müssen genaue Qualitätskriterien erfüllen und ständige Verbindung zum Jugendamt halten. Georg Hopp:

 

Zusp. 14:

„Es müssen ausgebildete Fachkräfte vor Ort sein, die müssen in dem Land der Sprache mächtig sein, müssen in der örtlichen sozialen Kontext eingebunden sein. Es ist wichtig, dass die schulische oder Ausbildungsebene qualitativ gut abgedeckt ist.“
Spr.: Im Abstand von zwei Monaten erhält das Jugendamt Berichte, die auf der Grundlage des bei Beginn festgelegten Hilfeplans genau die Entwicklung des Jugendlichen dokumentieren. Das wird dann gemeinsam mit allen Beteiligten besprochen, Veränderungen oder präzisierte Aufgabenstellungen werden festgelegt. Also hier gilt nicht: aus dem Auge aus dem Sinn. Enger Kontakt ist wesentliche Voraussetzung für einen Erfolg.

 

MUSIKAKZENT


Betrachtet man den gesamten Bereich der Erlebnispädagogik, so gibt es drei wesentliche Projektarten. Die erste sind sogenannte Standprojekte, also feste Häuser in Deutschland oder im Ausland, irgendwo in der Einsamkeit. Werner Michl mit einem Beispiel – Virtasalmi in Mittelfinnland:

 

Zusp. 15:

„Ich war vor einem Monat in Finnland, die Diakonie in Würzburg hat dort ein Haus gekauft, sehr einfach, ohne Strom, kein fließend Wasser und finnischer Winter dazu. Die nächste Ortschaft ist fast zehn Kilometer entfernt. Sie müssen zu Fuß dorthin gehen zum Einkaufen. Wenn die Jugendlichen nicht richtig planen, 10 Kilometer hingehen, 10 Kilometer heimgehen und dann merken, wir haben die Nudeln vergessen, müssen sie das noch mal tun. Also das Leben dort ist sehr einfach und die Jugendlichen müssen lernen für sich zu sorgen und ein wenig voraus zu denken. Wenn die sagen, ich heize mein Zimmer nicht ein, dann werden die bei 30 Grad minus ihrer Meinung sehr bald ändern, werden Holz hacken und einheizen.

 

Spr.:

Das Projekt heißt „Erleben – Arbeiten und Lernen“; in diesem Titel drückt sich die Zielsetzung aus: die Jugendlichen sollen Sinn in ihren Aktivitäten finden. Maximal drei Pädagogen und drei Jugendliche leben nach mehrwöchiger Vorbereitung in Deutschland bis zu sechs Monaten auf diesem Hof. Viele Aufgaben sind zu bewältigen - vom Lernen über Schreinerei und Gartenbau bis zu lebenspraktischen und hauswirtschaftlichen Pflichten; natürlich bestehen auch Freizeitangebote, im Sommer Wandern und Kajakfahren, im Winter Skilaufen. Nicht zu vergessen wöchentlich 15 Stunden theoretischer und 15 Stunden Projektunterricht. Jeder muss sich sein eigenes Bett, seinen eigenen Schrank und seinen eigenen Schreibtisch bauen. Im Mittelpunkt steht also die Bewältigung elementarer Lebensaufgaben. Das bedeutet Verzicht auf jeglichen Komfort, auf Fernseher, Gameboy, Alkohol und Zigaretten. Es gibt auch kaum Fluchtmöglichkeiten, denn es ist sehr einsam dort.

 

Zusp 16:

„Alle diese Dinge sind wichtig, denn es gibt dann so genannte Selbstwirksamkeitserfahrungen. Sie merken: was ich mache, wirkt wieder. Und sie merken: Ursache und Wirkung meines Handelns hängen zusammen.
Spr.: Mit dem realen Leben nach dem Aufenthalt habe das aber wenig zu tun, sagen Kritiker.

 

Zusp.17:

Das ist schon richtig, aber die Inhalte sind sozusagen parallel. Was sie in der Natur draußen lernen, können sie im Alltag in der Regel gebrauchen. Sie nehmen mit die Selbstwirksamkeit. Ich muss etwas für das Leben tun, damit ich Zukunft habe. Also es kommt eine Ermutigung heraus, die man im Alltagsleben gebrauchen kann. Sie merken: ich bin wirksam. Vorher war das so eine Art erlernte Hilflosigkeit, weil unsere Jugendlichen – auch in den Heimen – normalerweise voll versorgt werden.“

 

Spr.:

Und es besteht auch ein ganz enger Kontakt nach Würzburg. Mindestens einmal wöchentlich erfolgt eine telefonische Besprechung.

 

Anja ist heute knapp über zwanzig. Mit 13 war sie in die Drogenszene geraten; im Anschluss an den Entzug kam sie auf einen entlegenen Bauerhof in den umbrischen Bergen nahe Perugia. Auch dort ging es nicht um Urlaub, sondern um einen genau strukturierten Arbeitstag, mit Aufgaben, denen man sich nicht entziehen konnte. Das hieß: täglich um sechs aufstehen, Wasser holen, Frühstück zubereiten.

 

Zusp. 18:

„Es war eben schon fest geregelt, dass jeder so feste bestimmte Aufgaben hatte, wo eben klar waren, dass die erfüllt werden. Am Anfang war’s auch so, dass ein fester Tagesablauf da war, wann bestimmte Aufgaben sind, es gab feste Lernzeiten und die Arbeiten die eben zu tun waren wie: Tiere versorgen oder Garten, Sachen anbauen usw.“

 

Spr.:

Regelmäßiger Unterricht oder Vorbereitung einer Ausbildung sind wichtiger Bestandteil vieler Projekte. So auch bei Anja. Als sie mit 13 in die Drogenszene geriet, besuchte sie ein Gymnasium. In Italien wurde sie zu einer deutschen Schule in der Nähe gefahren.

 

Zusp. 19:

„Das war eben so, dass wir zweimal die Woche Unterricht hatten in einem Schulprojekt und ansonsten gab es eben Hausaufgaben wie sonst auch, eben in den Lernzeiten und dann habe ich erst den Quali nachgemacht und das Jahr darauf eben die mittlere Reife.“
Spr.: Auch sie berichtet von den Selbstwirksamkeitserfahrungen, die Werner Michl für das finnische Projekt beschrieben hat.

 

Zusp. 20:

„Ja, es ist auch ganz klar gewesen, wenn man eben morgens nicht aufgestanden ist und Holz gemacht hat, eingeheizt hat, dann war es halt im Winter schweinekalt und daher hat es dann auch nicht viel mit Urlaub zu tun. Also wenn man morgens nicht aufsteht und einheizt, dann muss man frieren.“

 

Spr.:

Und zum „Urlaub unter Palmen“ meint Anja …

 

Zusp.21:

„dass das auf jeden Fall absoluter Schwachsinn ist. Zumindest bei den Sachen, den Auslandsmaßnahmen die ich kenne, wo ich selber war, auch von den anderen, die ich da kennen gelernt habe. Weil es (a) so ist, dass man nicht hinkommt und dann irgendwie alles vergisst, was vorher war und überhaupt nicht an sich arbeitet oder arbeiten muss und (b) auch ganz klare Aufgaben sind und Anforderungen sind, also das gehört einfach dazu.“

 

MUSIKAKZENT

 

Spr.:

Eine zweite Richtung in der Erlebnispädagogik sind Segelprojekte. Sie nutzen die klaren Regelmechanismen des Schiffsalltags, um die Notwendigkeit des Zusammenwirkens in der Gruppe zu vermitteln. Es soll das Gefühl entwickelt werden, im Vertrauen aufeinander schwierige Situationen meistern zu können.

 

Zusp. 22:

„Segeln ist das klassische Medium, weil sich auf einem Segelschiff alle gruppendynamischen Konflikte offen dartun. Also wenn sie sich mal ordentlich mit ihren Freunden streiten wollen, machen sie am besten einen Segeltörn. Und die Konflikte, die entstehen bei einem Segeltörn, das ist das pädagogische Rohmaterial. Die Leute meinen immer bei Segeltörn: Sonne, Meer, wunderbar, wir sitzen alle so auf dem Schiff drauf. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist Stress von frühmorgens bis abends. Nur die Jugendlichen können nicht entweichen von dieser Situation. Hart gesagt, ist Segeln Knast auf hoher See. Es ist aber gesünder wie Knast. Und man kann, wenn man Pädagogen dabei hat, auch arbeiten mit diesen Konflikten.“

 

Spr.:

Eine ganze Reihe von Trägern unternehmen im Mittelmeer – wo das Wetter ganzjährige Arbeit erlaubt - Segeltörns, die bis zu einem halben Jahr dauern. Entscheidend ist auch hier, dass man nicht weglaufen kann, weder vor den eigenen Problemen und den Konflikten an Bord noch insgesamt aus dem Projekt.

 

MUSIKAKZENT

 

Die dritte Kategorie der Erlebnispädagogik umfasst Wanderungen und Fahrradreisen:
Zusp. 23: „Der Pädagoge ist mit dem Jugendlichen entweder per Fahrrad oder zu Fuß für eine längere Zeit zu einem Ziel unterwegs. Auch eine ganz wichtige Sache, denn wenn man so gemeinsam der Natur ausgesetzt ist, dann hat man vielleicht doch wieder die Möglichkeit, eine Beziehung anzufangen zwischen dem Jugendlichen und den Pädagogen.“

 

Spr.:

Das Ziel ist, bisherige Verhaltensmuster des Jugendlichen radikal in Frage zu stellen - so lange und so fordernd, dass tatsächlich auch eine Neuorientierung gelingen kann, zum Beispiel durch große körperliche Anstrengungen während einer mehrmonatigen Fahrradtour. Die heute 16-jährige Kerstin hat an einem solchen Projekt teilgenommen. Zu viert – 2 Mädchen und 2 Pädagoginnen – sind sie mit dem Fahrrad von Spanien nach Portugal gefahren, meist durch sehr dünn besiedelte Gegenden.

 

Zusp. 24:

„Urlaub war das nicht, das war stressig. Wenn du z. B. keine Lust mehr hattest oder so dein Rad irgendwo in die Ecke geschmissen hast, ich habe jetzt keinen Bock mehr, dann sind die halt weitergefahren. Und dann hast du allein dagestanden und nicht gewusst wohin jetzt. Fahrradfahren ist anstrengend und wenn man da am Tag 60 Kilometer Rad fährt, hast du gar keine Zeit an etwas anderes zu denken, sondern dann muss man sich darauf konzentrieren und wenn du das zwei Monate machst, bist du danach heilfroh, dass du endlich mal wieder relaxen kannst, dasitzen kannst. Aber in der Zeit, wo ich Fahrrad fahren musste war das kein Urlaub, war das harte Arbeit. Also ich konnte da unten nicht abhauen. Wenn ich abhauen wollte, dann wusste ich erstens nicht wohin, hatte kein Geld, wusste nicht, wo ich schlafen soll. Und das hat mir ein bisschen geholfen, dass ich nicht den Problemen aus dem Wege gehe. Sondern dass ich mich dahin hocke und sage: passt auf, das gefällt mir nicht und ich habe ein Problem, und das ich mit denen rede. Das habe ich vorher nicht gemacht. Ich bin immer weggelaufen.“

 

Spr.:

Am Anfang fallen die Jugendlichen manchmal in alte Verhaltensmuster zurück und versuchen den Anstrengungen auszuweichen.

 

Zusp. 25:

„Meine Betreuerin ist einkaufen gefahren und ich war allein. Und dann habe ich mir halt so gedacht, ich haue ab. Und dann bin ich rausgegangen, den Berg hoch gelaufen und dann am Abend bin ich ganz allein irgendwo rumgelaufen, habe nichts zu essen gehabt, war total müde, dann habe ich mir gedacht, dass gibt’s nicht, ich muss wieder zurückgehen. Also versucht habe ich das, aber deshalb nicht viel gebracht, weil ich hatte ja nichts. Und dann bin ich wieder zurückgegangen.“

 

Spr.:

Ähnlich war es bei Anja, die sowieso von Anfang an flüchten wollte.

 

Zusp. 26:

„Ich habe mir fest vorgenommenen, jetzt bist du weg und bin los gelaufen. Und es ist doch ziemlich abgelegen gewesen der Hof, da war es nicht so einfach so wegzukommen und bin gelaufen und gelaufen und irgendwann dachte ich mir, das ist doch Schwachsinn was du hier machst und bin wieder zurückgelaufen. Und das habe ich nicht nur einmal gemacht in der ersten Zeit.“

 

Spr.:

Wie hat der Betreuer darauf reagiert?

 

Zusp.27:

„Der hat das gar nicht mitgekriegt, weil ich frühmorgens gelaufen bin, da dachte ich, der kriegt es noch keiner mit. ich war auch jedes Mal dann so wieder da, dass es wirklich in der ersten Zeit keiner gemerkt hatte, außer den anderen beiden Mädchen, die noch da waren.“

 

Spr.:

Diese Erfahrung hat Denkprozesse ausgelöst und alte Verhaltensmuster verändert. Und noch etwas hat bewirkt, sich den Anforderungen zu stellen:

 

Zusp. 28:

„Also es waren auf jeden Fall Gespräche mit den Betreuer und eben einfach auch so der Abstand irgendwie, der viel ausgemacht hat, also räumlich und zeitlich.“
Spr.: Lassen sich Palmen und Zypressen durch den Bayerischen Wald ersetzen? Werner Michl sagt ganz entschieden: nein!

 

Zusp. 29:

„Denn diese Jugendlichen sind ja auch Weltmeister im Davonlaufen und sie würden – der Bayerische Wald ist gut geeignet, weil gleich in der Nähe der tschechische Straßenstrich ist – innerhalb von einem halben Tag weg sein und sich wieder prostituieren. Das Ausland ist deswegen wichtig: 1. die Entfernung vom ursprünglichen Milieu und zweitens die Reduktion der Lebenswirklichkeit auf wenige Variablen.“

 

Spr.:

Das bestätigt auch Anja:

 

Zusp. 30:

„Also bei mir wäre es, denke ich, auf jeden Fall in Deutschland schwieriger gewesen, wenn es überhaupt funktioniert hätte. Weil einfach auch der räumliche Abstand nicht groß genug ist. Es ist ja auch so, wenn man dann eben in einem anderen Land ist und überhaupt niemand kennt. Am Anfang gab es auch noch die komplette Kontaktsperre überhaupt zu Leuten in Deutschland und dann später eben eingeschränkt zu bestimmten Personen und das wäre einfach in Deutschland so nicht möglich.“

 

Spr.:

Viele Wissenschaftler und Praktiker halten deshalb die Kritik an Auslandsmaßnahmen für überzogen und unehrlich.

 

Zusp. 31:

„Mit diesem Thema macht man Politik. Man kann damit Stammtische aufheizen, weil ja keiner versteht, was das soll. Jeder sagt: nach Griechenland möchte ich auch mal fahren. Ich raube mal 15 Automaten aus, dann komme ich nach Griechenland - super. Für diesen Jugendlichen ist das eine Bestrafung, der will nicht nach Griechenland, der will weiter Automaten ausrauben. Es wird gesagt, andere Maßnahmen seien billiger und effektiver. Und das stimmt in keiner Weise. Da sagen alle Politiker die Unwahrheit, denn wir wissen ganz genau, das die 1:1-Maßnahmen nach § 35 wesentlich billiger sind als jede Psychiatrie, als jedes geschlossene Heim, als jede Krisenintervention.“

 

Spr.:

Die öffentliche Diskussion und die in manchen Einzelfällen auch berechtigte Kritik sind nicht ohne Wirkung geblieben. Christian Lüders:

 

Zusp.32:

„Dass an manchen Stellen die Fachaufsicht besser werden muss, dass man an manchen Stellen auch froh war, Jugendliche loszuwerden im Ausland, weil man nicht mehr wusste, was man hier mit ihnen tun sollte, weil man keinen Ort hatte, wo man sie unterbringen wollte, das ist alles richtig und die Kritik ist auch berechtigt, das muss auch abgestellt werden. Die Gesetzentwürfe die derzeit auf dem Tisch liegen, werden auch einigen Problemen den Riegel vorschieben, damit auch die Lage verbessern.“

 

Spr.:

So hat das Bundesfamilienministerium einen Gesetzentwurf eingebracht, nach dem Auslandsprojekte künftig Ausnahmecharakter haben und stichhaltig begründet werden müssen. Außerdem müssen die Veranstalter in Zukunft anerkannte Träger der Jugendhilfe sein. Das verbessert die fachliche Aufsicht, damit sollen spektakuläre Misserfolge ausgeschlossen werden. Und wenn es wieder zu Schlagzeilen in den Medien kommt? Georg Hopp vom Münchner Jugendamt:

 

Zusp. 33:

„Dass dann sofort die Maßnahme per se in Frage gestellt wird, da habe ich meine Probleme. Denn wenn in Erfurt 17 Menschen umgebracht werden in der Schule, dann stellt man auch nicht gleich reflexhaft die Institution Gymnasium in Frage. Also da finde ich es oft weit über das Ziel hinausgeschossen.“

 

Spr.:

Manchen Kritikern gehen die geplanten Veränderungen nicht weit genug. „Wir wollen keine Erlebnispädagogik unter Palmen, weil sie fachlich nicht überprüfbar und notwendig ist“ heißt es in einer Bundesratsinitiative der bayerischen Staatsregierung. Auch Karin Reiser von bayerischen Sozialministerium sieht das so.

 

Zusp. 34:

„Idealtypisch aus unserer Sicht und das wird uns durch zahlreiche erfolgreich verlaufende Maßnahmen bestätigt, idealtypisch sollte ISE im Inland stattfinden. Wir wenden uns und wehren uns so ein bisschen gegen diesen Trend, zunehmend die Maßnahmen ins Ausland zu verlagern und damit auch eine gewisse, ich formuliere das jetzt bewusst zugespitzt, eine gewisse Entsorgungsmentalität zu entwickeln.“

 

Spr.:

Dieser Auffassung widersprechen Theoretiker und Praktiker der Jugendhilfe. Im Münchner Jugendamt zum Beispiel bewegen sich die Zahlen seit Jahren auf dem gleichen niedrigen Niveau; jeder einzelne Fall wird genau geprüft, das heißt: hier gibt es keine Zunahme und keine „Entsorgungsmentalität“. Breite Zustimmung dagegen finden die geplanten Maßnahmen zur Verbesserung der Vorbereitung. Auch eine wissenschaftliche Auswertung wird befürwortet, weil sie viele Vorurteile ausräumen könnte. Die Jugendhilfe muss aber noch eine weitere Aufgabe bewältigen: Kritiker sagen, dass solche Maßnahmen nur an den Symptomen ansetzen, nicht an den Ursachen. Hier stimmt Werner Michl zu:

 

Zusp. 35:

„Da ist schon was Wahres dran. Ich muss mit den Eltern oder Erziehungsverantwortlichen des Jungen, auch wenn der jetzt in Finnland ist, vor Ort weiterarbeiten. Ich muss das sozusagen systemisch betrachten, das hat man übersehen. Man muss beides machen. Man muss ihn erst entziehen aus dem schwierigen Milieu und man muss auch versuchen auf das Milieu einzuwirken, damit ein Besseres vorfindet, wenn er zurückkommt.“
Spr.: Eine Erfahrung besagt übrigens: wenn die Jugendlichen merken, dass auch ihre Eltern versuchen etwas zu ändern, sind sie viel motivierter. Und noch etwas sei ganz wichtig, meint Anja:

 

Zusp. 36:

„Das einzige Problem liegt in dem Zurückkommen nach Deutschland dann wieder und dass es halt da wichtig ist, dass dann auch irgendwie etwas weiterläuft.“
Spr.: Wie geht es weiter mit Schule, Ausbildung, Familie? Kann man in die Familie zurück? Wenn nicht, wohin dann? Werner Michl:

 

Zusp. 37:

„Ganz wichtig ist die Phase, wenn das Projekt zu Ende geht, wenn der Jugendliche und der Pädagoge heimkehren. Früher hat man gemeint, jetzt ist der geheilt, ist sozialisiert. Jetzt kann es weitergehen zu Hause. Man hat gemerkt, das ist ein ganz, ganz schwieriger Bereich: wie kann der Jugendliche wieder integriert werden, in der Schule, mit den Eltern, Freunden und man hat verstärkt Bemühungen gemacht, dass diese Phase intensiv betreut und begleitet wird, wenn der Jugendliche nach Hause kommt. Dass auch die Eltern darauf vorbereitet werden, dass die Schule darauf vorbereitet wird. Alle diese Dinge sind sehr wichtig.“

 

Spr.:

Aber auch das schließt Probleme nicht aus. Kerstin zum Beispiel hatte Schwierigkeiten, sich in den Schulalltag hineinzufinden; im Ausland war sie täglich drei Stunden von ihrer Pädagogin unterrichtet worden.

 

Zusp. 38:

„Wie ich wieder zurückgekommen bin, bin ich in die 6. Klasse gekommen. Am Anfang war das ziemlich schwer mit der Schule, in so einer großen Klasse zu sein, ich war das nicht mehr gewöhnt.“

 

Spr.:

Sie kam mit den schulischen Anforderungen nicht klar und suchte einen Ausweg in Haschisch und Crack:

 

Zusp. 39:

“Weil ich gedacht habe, dass dann der Stress weniger wäre. Wenn ich jetzt was geraucht habe, ging es mir besser. Danach hatte ich keinen Stress mehr, habe ich alles leichter genommen.“

 

Spr.:

Das aber führte wieder zu Problemen, die für Kerstin unlösbar wurden.

 

Zusp. 40:

„Und dann habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen in der Schule, habe Tabletten geschluckt und die haben mich dann ins Krankenhaus gefahren und dann haben sie halt alle gesagt, die ist voll verrückt, die wollte sich umbringen in der Schule.“

 

Spr.:

Erst nach einer weiteren Krisenintervention – vier Wochen mit ihrer Betreuerin in einem abgeschiedenen Berghof – bekam sie schließlich ihre Probleme in den Griff.

 

Zusp.41:

Und es war halt dann so, ich musste mich entscheiden, mache ich es und versaue mir mein ganzes Leben? Und ich hab mich halt dafür entschieden, dass ich weiter mache, also nicht mit den Drogen, sondern dass ich wieder mein Leben in den Griff kriege, dass ich sage, ich höre damit jetzt auf und probiere, dass ich es wieder hinkriege.“

 

MUSIKAKZENT

 

Spr.:

Undorf ist ein kleines Dorf im hügeligen Bergland in der Nähe von Regensburg. Hier ist die Zentrale des Instituts für kooperative Abenteuerprojekte – kurz: KAP. Die Mitarbeiter haben schon mehrere bundes- und europaweite Auszeichnungen erhalten. 20 Jugendliche werden derzeit betreut, davon 6 im Ausland. Ein Tag kostet 199 Euro. Bevor entschieden wird, welche Hilfsmaßnahme für ihn infrage kommt, muss ein Jugendlicher eine vierwöchige Probezeit durchlaufen - in drei Etappen. Peter Alberter, Sozialpädagoge und Institutsleiter:

 

Zusp. 42:

„Der Start ist, dass der Jugendliche, der keine Orientierung hat, nicht weiß wie es weitergeht in seinem Leben, der wird als erstes mal mitten im Wald ausgesetzt. Für den Jugendlichen ist das als erstes ein Schock. Er ist ausgestattet mit Rucksack, Isomatte, Schlafsack, einfacher Kost, vier Kartoffeln, ein Kocher, und steht einfach erst mal einmal mitten im Wald.“

 

Spr.:

Vom Betreuer unterstützt, lernt der Jugendliche, sich mit Karte und Kompass zu orientieren. Ziel ist, die etwa 80 bis 100 km entfernte KAP-Zentrale eigenständig zu finden. Auch Kerstin hat das mitgemacht.

 

Zusp. 43:

„Ich bin hergekommen und erst musste ich wandern gehen, 40 Kilometer. Das war im Winter, total kalt. Die ganze Nacht sind wir durchgelaufen eigentlich, weil es so kalt war, wir konnten nicht schlafen und das war dann halt ein Tag. Und dann mussten wir eine Radtour machen, fünf-Flüsse-Tour, drei Tage sind wir gefahren und dann haben wir abgebrochen, weil es zu kalt war. Also uns ist die Suppe eingefroren und das Zelt war nass und alles.“

 

Spr.:

Viele sind zunächst geschockt, aber dann überwiegen bei den meisten die Neugier und der Wille, das zu schaffen. Der Betreuer und der Jugendliche lernen sich schnell näher kennen und merken, dass sie gänzlich auf sich gestellt sind. Am Ende werden die beiden getrennt und nach ihren Erfahrungen und Beziehungen befragt. Aber manchmal kommt es gar nicht dazu:

 

Zusp. 44:

„Wir haben schon die Erfahrung gemacht bei vereinzelten Fällen, wo der Jugendliche hoch aggressiv war, kein Interesse hat, sich bewaffnet hat, wo wir das Clearing sofort beendet haben. Das ist ja auch das Clearing – festzustellen, ob der Jugendliche freiwillig Lust hat, sein Leben positiv zu verändern.“

 

Spr.:

Im Anschluss beginnen Phase 2 und 3 der Probezeit.

 

Zusp. 45:

„Der Jugendliche bekommt ein MTB und begibt sich auf eine 350 Kilometer lange MTB-Tour. Und dann erfolgen Arbeitseinsätze, dass wir im Altersheim mitarbeiten, helfen – es wird das Leistungsvermögen getestet. Wie viele Stunden kann der Jugendliche arbeiten?“

 

Spr.:

Das stellt ganz schöne Anforderungen, so der 16-jährige Peter:

 

Zusp. 46:

„Wir haben mit Motorsägen Bäume umgesägt, das war schon cool. Mit macht es auch Spaß. Urlaub ist das ganz und gar nicht. Einige Sachen machen Spaß, aber manchmal denke ich auch so, ich hätte mir wirklich auch ein Heim nehmen können, weil da ist es ein bisschen einfacher, da setzt man sich auf die faule Haut.“

 

Spr.:

Nach 4 Wochen wird ein schriftlicher Bericht erstellt, das Jugendamt und die Eltern werden eingeladen, der Jugendliche und sein Betreuer berichten von ihren Erfahrungen. Dann werden weitere Schritte beschlossen. Ein Beispiel:

 

Zusp. 47:

„Also das war ein Jugendlicher, der zu uns gekommen ist, weil in einer geschlossenen Einrichtung kein Platz war, er ist ständig entwichen, er war polizeibekannt und es musste dringend etwas passieren, damit er nicht, ja er war schon auf schiefer Bahn, damit das unterbrochen wird. Wir haben nach einem Clearing entschlossen, der Jugendliche hat null Durchhaltevermögen, keine Ausdauer, das zu trainieren und haben ihn ins Ausland geflogen, er ist 6500 Kilometer mit dem Fahrrad wieder zurückgefahren von Spanien, das im Frühling, bei Regen draußen, er hat gelernt auf die Zähne zu beißen und hat dann im Ausland begonnen, in die Schule zu gehen, Praktikas durchzuführen. Das Resultat ist, dass er entdeckt hat, dass eigentlich sein Lieblingsberuf Koch ist. Sein Hobby, was er entdeckt hat unter professioneller Anleitung, dass er hier eine Ausbildung machen möchte. Er hat eine Lehrstelle bekommen und macht bei uns zur Zeit seinen Hauptschulabschluss.“
Spr.: Besondere Bedeutung für den Erfolg solcher 1:1-Maßnahmen haben natürlich die Betreuer. Wer fährt schon gern 6500 Kilometer bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad durch Europa? Manche Kritiker sprechen von Aussteigern, die ihre Abenteuerlust ausleben wollen! Tatsächlich ist es meist ein Knochenjob, gleichzeitig Vater, Mutter, Freund und Pädagoge für jemanden zu sein. Eine gewisse Abenteuerlust gehöre schon dazu, meint Peter Alberter, ausreichend sei es aber nicht.

 

Zusp. 48:

„Also in erster Linie sind das soziale Fachkräfte. Der hat eine Ausbildung als Sozialpädagoge, Diplompädagoge, Heilpädagoge; meist noch eine erlebnispädagogische Zusatzqualifikation und Lust am Leben, draußen zu sein und Lust eine Beziehung, eingehen zu können mit den Jugendlichen. Und Freude am Leben, optimistisch eingestellt, das sind Grundvoraussetzungen. Anders ist das nicht aus- und durchzuhalten, der Mitarbeiter lebt 24 Stunden mit dem Jugendlichen zusammen.“

 

Spr.:

Oft sind die Jugendlichen sehr misstrauisch gegenüber Erwachsenen.

 

Zusp. 49:

„Also am Anfang da war es schon absolut ungewohnt und irgendwie, war es schon komisch, dass da einer ist, der die ganze Zeit irgendwie für einen da ist oder sich so auf einen konzentriert.“

 

„Ich habe eine Betreuerin, die Christine, mit der bin ich echt gut zurechtgekommen, die hat mir geholfen, mit der ich eigentlich am weitesten gekommen, weil die hat nicht gleich aufgehört und hat nicht gesagt: ich will nicht mehr, wo das mit den Drogen war, hat sie gesagt, wir packen das schon, das kriegen wir wieder hin. Die hat mir immer die Stange gehalten, die hat immer zu mir gehalten, egal was war.“

 

Spr.:

Für Peter sind neue Erfahrungen wie Vertrauen und gegenseitige Offenheit besonders wichtig.

 

Zusp. 50:

„Das gehört sich auch eigentlich, wenn man so dicht auf Haut lebt. Da sagt man schon, was einem passt und was einem nicht passt.“

 

Spr.:

Worin sehen Anja, Peter und Kerstin die wichtigsten Ergebnisse für sich?

 

Zusp. 51:

„Dass ich jetzt clean bin, weil ich clean sein will und einfach so klare Vorstellungen habe wie ich leben will und dass ich das im Moment so umsetzen kann.“
„…arbeiten, so richtig arbeiten. Ich habe ja nicht mal gescheit mein Zimmer aufräumen können.“
„Es hat mir halt gebracht, dass ich mit meinem Leben mehr klar komme. Ich habe mich selbst nicht gemocht und ich habe in der Zeit, wo ich da gefahren bin, habe ich angefangen, mich selber zu mögen. Also ich habe angefangen, dass ich nicht sage, ich schaffe das nicht und ich kann das jetzt nicht, sondern dass ich es halt probiere. Z.B. Kochen konnte ich vorher nicht, da habe ich einfach irgendwas genommen und habe es gekocht und das hat schon lecker geschmeckt und dann habe ich es halt gekonnt. Und ich musste Fahrrad flicken, ich hatte einen kaputten Reifen. Und da bin ich da ganz alleine gesessen und habe irgendwie versucht, das Fahrrad zu flicken, im ersten Augenblick war es falsch aber dann ging es und dann konnte ich es. Ich hab halt selber gelernt, dass ich nicht nur sag, ich kann es nicht, nun scheiß drauf, sondern dass ich es halt langsam angehe.“

 

Spr:

Anja lebt heute in einer eigenen Wohnung, wird immer noch betreut und besucht eine Fachoberschule, wird im nächsten Jahr das Abitur machen. Für Peter wird gerade ein Ausbildungsplatz gesucht; er wird sicher weiter in einer Einrichtung der Jugendhilfe leben. Und Kerstin lebt in einer betreuten Wohngruppe mit anderen Mädchen, will die Schule abschließen und einen Beruf erlernen.

 

Die drei Jugendlichen zählen zu den 60%, bei denen die Maßnahmen erfolgreich sind. Und der Rest? Manche geben auf oder stürzen wieder ab. Eine hundertprozentige Erfolgsgarantie gibt es nicht. Zum Vergleich: 3 von 4 Jugendlichen, die eine Gefängnisstrafe verbüßt haben, werden wieder rückfällig. Ergebnisse von Untersuchungen zeigen übrigens, dass die Wirksamkeit solcher Maßnahmen um so höher ist, je früher sie zur Anwendung kommen.

 

MUSIKAKZENT

 

Spr:

Alternativen – erstens:

 

Zusp. 52:

“Ich bin Anfang 2004 von daheim rausgeschmissen worden. Bin als erstes in die Jugendschutzstelle gekommen in Nürnberg, anschließend in eine WG, wo ich nach zwei Monaten wieder rausgeflogen bin. Dann bin ich zu einer Pflegefamilie gekommen, zu einer Bereitschaftspflege und da war auch nach drei Monaten Sense.“

 

„Meine Eltern sind Alkoholiker und die haben sich auch immer gestritten. Dann hat sich meine Mutter zu jemand anders geseilt, hat uns in Stich gelassen, ist auch immer sehr betrunken nach Hause gekommen, hat meinen Vater geschlagen. Irgendwann bin ich dann von Zuhause davongelaufen, weil ich es psychisch nicht mehr ausgehalten habe.“
Spr.: Marion, 17, und Christine, 15, leben seit einigen Monaten im Mädchenheim Gauting bei München. Insgesamt 42 Mädchen in sechs Gruppen werden dort im 1:1-Verhältnis von pädagogisch-therapeutischen Fachkräften betreut. Jede Gruppe bewohnt ein eigenes Haus. Die Mädchen sind in geräumigen Zimmern untergebracht. Grundlage der Einweisung ist der Beschluss eines Familiengerichtes. Ein Tag kostet 250 Euro. Insgesamt gibt es in Deutschland zur Zeit 185 solcher Plätze.

 

Zusp. 53:

„Das heißt, die Zahl ist verschwindend gering, wenn man überlegt, dass es pro Jahr über 100.000 Jugendliche gibt, die in irgendwelchen Maßnahmen der Jugendhilfe sind, ambulante Maßnahmen und stationäre Maßnahmen zusammengenommen.“

 

Spr.:

So die Psychologin Hanna Permien vom Deutschen Jugendinstitut München. Trotzdem gibt es seit Jahren hitzige Diskussionen um diese Art der Jugendhilfe. Manche würden sie gern ganz abschaffen, andere möchten sie viel schneller zum Einsatz bringen und ausbauen.

 

Zusp. 54:

„Ich denke, es wäre fatal, wenn man ohne andere Dinge versucht zu haben, gleich sagen würde: hier du hast mehrfach eingebrochen oder sonst was Schlimmes gemacht, und jetzt bringen wir dich geschlossen unter. Denn in dem Moment würde Jugendhilfe praktisch eine Strafaufgabe wahrnehmen und das will Jugendhilfe natürlich nicht. Dazu ist sie auch nicht da.“

 

Spr:

Was sind nun die Gründe für eine Einweisung nach Gauting? Bernhard Stadler ist Psychologe und der Leiter des Heims.

 

Zusp. 55:

„Wir sprechen hier von einer typischen Trias, die schaut so aus, in Kombination mit sehr vielen Entweichungen, Schulschwänzen und Schulschwierigkeiten allgemeiner Art, oft auch Schulausschluss über mehrere Wochen. Das dritte wäre dann im Sinne von Aggressivität und dissozialen Verhalten, in dem Sinne Auffälligkeiten.“

 

Spr.:

Die meisten der Mädchen haben lange „Jugendhilfekarrieren“ hinter sich. Viele waren in verschiedenen offenen Heimen und sind dort immer wieder entwichen; nur eines von zehn kommt direkt aus dem Elternhaus. Fast alle haben erhebliche Probleme mit Drogen und Alkohol. Die meisten entstammen schwierigsten Familienverhältnissen, geprägt durch Konflikte, Trennungen, Partnerwechsel und Suchtprobleme. Was auffällt, ist die Herkunft aus überdurchschnittlich vielen…

 

Zusp. 56:

„Patchworkfamilien, das heißt mit einem neuen Lebenspartner. Und ein nicht unerheblicher Grund für geschlossene Unterbringung ist auch sexueller Missbrauch. Und diese Patchworkfamilien erleichtern diese Art von Missbrauch. Ich würde sogar sagen, dass fast jedes zweite Mädchen im geschlossenen Bereich sexuellen Missbrauch hinter sich hat.“

 

Spr.:

Manchmal stehen die Jugendlichen auch unter dem Druck von Cliquen, Dealern oder Zuhältern, so dass sie „unerreichbar“ für Eltern und Jugendhilfe geworden sind. Schwierige Voraussetzungen also für die Arbeit im Heim. Was heißt nun geschlossene Unterbringung konkret?

 

Zusp. 57:

Tatsächlich ist es so, dass die Mädchen im Schnitt ein Schuljahr im geschlossenen Bereich bleiben. Innerhalb dieses Jahres in der Regel nach den ersten vier Wochen den ersten Ausgang in Begleitung eines Betreuers bekommen, so dass man sagen kann, die ersten vier Wochen ist Eingewöhnungsphase, das hat den Sinn, dass sich die Mädchen auf die neue Gruppe und die Betreuer einlassen.“

 

Spr.:

In den ersten vier Wochen dürfen die Mädchen keinen Besuch empfangen, nicht telefonieren. Der Kontakt zur Außenwelt bleibt auf Briefe beschränkt. Frühestens nach drei Monaten wird Ausgang genehmigt. In den Gruppen herrscht ein streng geregelter Tagesablauf. Erst abends gibt es Freizeit. Der Unterricht wird in kleinen Gruppen gehalten. Für Marion ist das eigentlich das Wichtigste im Heim.

 

Zusp. 58:

„Ich gehe in die Schule. Hier ist man natürlich gezwungen, in die Schule zu gehen, aber das ist für mich was ganz Großes. Weil ich letztes Jahr auch schon in der neunten Klasse war und den Quali gemacht habe in ein paar Fächern, auch gute Noten gehabt habe in denen, aber in ein paar Fächern war ich einfach nicht da, war mir egal oder habe ich verschlafen oder was weiß ich...“

 

Spr.:

Im Heimalltag spielen auch erlebnispädagogische Aktivitäten eine wichtige Rolle.

 

Zusp.59:

„Da sind die Mädchen sehr empfänglich. Wir haben neuerdings eine eigene Kletterwand, wir machen aber auch Nachtwanderungen mit Mutproben und da schwärmen oder erzählen die Mädchen noch Tage später oder Wochen später. Wir haben mittlerweile eine eigene Berghütte in Österreich angemietet, wo wir öfters dann wandern gehen und Skifahren im Winter.“

 

Spr.:

Die Beurteilung des Heimaufenthalts durch die Mädchen fällt natürlich unterschiedlich aus.

 

Zusp.60:

„Ich glaube, ich bin eines der wenigen Mädchen, die begriffen haben, warum ich hier bin. Ich habe verstanden, dass ich selber dran schuld bin und dass das für mich hier zweite Chance ist, Sachen besser zu machen in der Schule zum Beispiel oder so.“

 

„Ich glaube, wenn ich wieder entlassen bin, dann habe ich auch ein bisschen Zeit nachzuholen. Ich bin ja trotz alledem nicht richtig therapiert und das reizt mich schon noch, das andere, das unstete Leben reizt mich immer noch. Ich werde auch einiges zum Nachholen haben.“

 

Spr.:

Die Arbeit stellt sehr hohe Anforderungen an die Erzieher. Vor allem Konsequenz ist gefragt, so Bernhard Stadler:

 

Zusp. 61:

„Wir haben tatsächlich keinen partnerschaftliche Erziehungsstil, sondern einen autoritären, die würden uns auf den Kopf rumtanzen, die Früchte können dann später andere Wohngruppen erleben. Also es ist sehr viel Kampf, Beziehungskampf, aber auch im positiven Sinne, der aber sehr belastend ist für die Betreuer.“

 

Spr.:

Erschwerend kommt in vielen Fällen dazu, dass eine Zusammenarbeit mit den Eltern schwierig oder unmöglich ist.

 

Zusp. 62:

„Das neue JHG favorisiert natürlich die Rückkehr ins Elternhaus, was für unsere Klientel oftmals gar nicht möglich ist, weil die familiären Verhältnisse so chaotisch sind, dass unsere Zielsetzung eher in Richtung Verselbstständigung als Rückkehr ins Elternhaus führt. Wir bieten tatsächlich auch Elternarbeit, manchmal sogar Therapie an, leider wird das zu wenig genutzt, weil viele Eltern sage ich mal ganz salopp unserer Meinung nach noch gestörter sind als die Jugendlichen.“

 

Spr.:

Die Kinder leiden sehr unter dieser Situation, vor allem wenn die Eltern gegen das Heim arbeiten.

 

Zusp.63:

„Wir glauben aber trotzdem, dass die Erfolgsquote bei mindestens zwei Drittel liegt, wenn man folgende drei Kriterien zugrunde legt: das eine ist, dass sie hinterher nicht mehr strafauffällig werden, das zweite ist soziale Integration, dass sie ein Dach über dem Kopf haben, auch einen bestimmten Freundeskreis, der einigermaßen akzeptabel ist, und das dritte ist ein Beschäftigungsverhältnis, dass sie einem Job nachgehen. Ich möchte aber auch nicht verleugnen, dass es Mädchen gibt, wo wir die Beziehungsarbeit über ein Jahr gemacht haben und die hinterher schnurstracks in der Prostitution landen. Wo wir nicht wissen warum.“

 

Spr.:

Nicht in allen Bundesländern gibt es geschlossene Unterbringung. In Politik, Wissenschaft und Jugendhilfe ist derzeit eine erbitterte Diskussion über die Frage entbrannt, ob die „offenen“ Einrichtungen nicht ausreichen würden – die Pädagogik ist die gleiche, nur der Zwang fehlt. Sabine Pankofer, Professorin für Sozialpädagogik an der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München, hat vor Jahren in Gauting als Erzieherin gearbeitet und gehört zu den Kritikern.

 

Zusp. 64:

„Die Fantasien, die es zur geschlossenen Unterbringung gibt, im Sinne von: was soll dort alles passieren? Das muss man sehr genau überprüfen, weil es kann nichts anderes passieren, als woanders auch passiert. Oft sind die Rahmenbedingungen in der geschlossene Unterbringung sehr viel besser als in anderen Bereichen. Wo vorher ständig Geld eingespart wird, wird es einmal bei Tagessätzen von 250 bis 260 Euro quasi in großer Menge ausgegeben. Da ist eine ziemliche Diskrepanz oft da zwischen dem, was erwartet wird und dem, was dann tatsächlich dort passieren kann. Und ich finde, das ist sehr problematisch für beide Seiten, für die geschlossene Unterbringung und die offenen Jugendhilfeeinrichtungen. Dass die einen auf einmal nichts mehr können sollen und die anderen müssen das richten für die. Und beides ist nicht möglich.“

 

MUSIKAKZENT

 

Spr.:

Alternativen – zweitens: seit November 2003 gibt es in Regensburg eine bisher bundesweit einmalige Einrichtung der Jugendhilfe zur Krisenintervention: eine sogenannte Clearingstelle. Sie ist in das Sankt-Vincent–Kinderheim integriert. Hier soll extrem aggressiven und kriminellen Kindern geholfen werden. Die Clearingstelle ist eine von drei in Bayern geplanten Einrichtungen im Rahmen des von Kultus- und Sozialministerium entwickelten Konzeptes „Wege aus der Delinquenz – Schritte in eine positive Zukunft“. Maximal sieben Kinder im Alter bis 14–ausnahmsweise auch älter - können hier für eine begrenzte Zeit untergebracht werden, erläutert Norbert Walke vom Sozialministerium:

 

Zusp. 65:

“Es handelt sich um strafunmündige Kinder, die als Intensivstraftäter auffällig geworden sind, die wirklich zum Teil 50, 60 Straftaten begangen haben, aber da sie Kinder sind, für die Justiz nicht greifbar sind und deswegen mit Mitteln der Jugendhilfe diesen Kindern eine Perspektive aufgezeigt werden muss. Das ist die Grundidee. Es ist daran gedacht, ganz kurzfristig eine geschlossene Unterbringung mit intensivtherapeutischer Begleitung und Behandlung für diese Kinder durchzuführen. Es ist da gedacht an drei Monate, von Anfang an, vom ersten Tag eine Perspektive für das Kind und auch für die Familie aufzuzeigen.“

 

Spr.:

Da es sich um Freiheitsentzug handelt, ist eine Entscheidung des Familiengerichtes Voraussetzung für die Einweisung. Wenn die Eltern nicht zustimmen, muss es Sorgerecht und Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern aufheben.
Ziel der Clearingstellen ist allerdings, die Eltern mit einzubeziehen und ihre Erziehungsverantwortung zu stärken. Sie müssen sich im Rahmen ihrer Einkommensverhältnisse auch an den Aufenthaltskosten von 270 Euro am Tag beteiligen.
In der Clearingstelle herrscht ein strenges Reglement. Bei Ankunft werden die Kinder nach Drogen und Waffen durchsucht, auch Haarspray und Nagellack dürfen sie nicht haben, keine Ohrringe, keinen Gürtel, kein Handy. Das ist für die meisten ein Schock. Die Bestecke in der Küche sind nummeriert usw. Xaver Waitzhofer, der Leiter der Clearingstelle:

 

Zusp.66:

„Der Hintergrund dieses strengen Regelwerks sind zwei Aspekte. Zum einen geht es um den Schutz der Kinder untereinander und zum anderen geht es um den Schutz der Mitarbeiter vor aggressiven Kindern. Wir haben hier z.T. Kinder, die nach Aktenlage sich mit Messern bewaffnet haben in der Vergangenheit und damit andere Kinder und Betreuer angegriffen haben.“

 

Spr.:

Es herrscht ein streng geregelter Tagesablauf. Nach Aufnahme und kinderpsychiatrischer Diagnostik besuchen die Kinder sofort eine interne Schule, sie werden mit ihren Taten konfrontiert und lernen, sich an Regeln zu halten sowie Konflikte gewaltfrei und sozial angemessen zu lösen. Ein Team aus verschiedenen pädagogischen Fachkräften sowie drei Lehrer - ein Förderschul-, ein Hauptschul- und ein Fachlehrer – führen viele der Kinder wieder an die Schule heran. Nach einem Monat gibt es die Möglichkeit, mal auszugehen. Damit, so Xaver Waitzhofer, hat man gute Erfahrungen gemacht, seit Einrichtung der Clearingstelle sind bisher alle Kinder zurückgekehrt.

 

Zusp.67:

„Insofern ist ein wesentlicher Effekt erreicht, wenn die Krise des Kindes unterbrochen werden kann, in das Familiensystem wieder Ruhe reinkommt, wenn hier noch mal sauber diagnostiziert werden kann, was die Ursachen für das problematische Verhalten des Kindes sind und wenn eine Empfehlung abgegeben werden kann, was das Kind nach dem Aufenthalt hier braucht.“

 

Spr.:

Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten.

 

Zusp.68:

„Die drei Clearingstellen haben neben dem geschlossenen Teil auch einen offenen Teil. Sollte sich keine andere Perspektive wie Rückführung ins Elternhaus oder in eine andere Jugendhilfeeinrichtung finden, dann besteht die Möglichkeit, über die drei Monate hinaus die Kinder noch über eine gewisse Zeit im offenen Teil der Clearingstelle zu betreuen. Die Regel sollte das aber nicht sein. Es ist vielmehr daran gedacht, dass die differenzierte bayerische Heimlandschaft und die Jugendhilfelandschaft genutzt wird, um das genau passende Angebot für das einzelne Kind auszusuchen, natürlich gemeinsam mit dem Jugendamt im Rahmen einer differenzierten Hilfeplanung, an der alle Fachkräfte beteiligt sind.“

 

Spr.:

Das kann zum Beispiel ein erlebnispädagogisches Projekt sein, eine therapeutische Wohngruppe oder auch eine längerfristige geschlossene Unterbringung.
Zusp.69: Erfolg in der Clearingstelle heißt für mich zum einen, wenn das Kind hier wirklich einfach auch noch mal zu Ruhe kommt und auch zum Nachdenken kommt und hier in der Clearingstelle auch Problemeinsicht entwickelt und Motivation entwickelt, sich optimalerweise freiwillig längerfristig durch Jugendhilfemaßnahmen unterstützen zu lassen.“

 

Spr.:

Fazit: Schwierige und verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche werden von ihrer Umwelt hauptsächlich als Problem wahrgenommen, von der Politik als Kostenfaktor, vom Arbeitsmarkt als unbrauchbare Restgruppe und von der Gesellschaft allgemein als Kostenverursacher, für die Steuergelder verschwendet werden. Trotzdem sollte man sie nicht aufgeben. Das aber ist teuer – und lohnt sich der Aufwand? Walter Krug, Leiter des Kinderzentrums Sankt Vincent in Regensburg:

 

Zusp.70:

„Es ist schwierig, das was wir tun, immer von dem abhängig zu machen, ob da ein Gewinn dahinter steckt. Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass wir im Grundgesetz und im KJHG festgeschrieben haben, dass Kinder ein Recht auf Erziehung haben. Und ich leite aus diesem Recht der Kinder auf Erziehung die Pflicht der Familie und der Gesellschaft ab, diese Kinder auch zu erziehen. Und zwar unabhängig von der Prognose, die wir für diese Kinder haben. Wenn wir das nicht tun, bin ich davon überzeugt, dass wir in den nächsten Jahrzehnten eine Menge von Heranwachsenden und dann auch Erwachsenen haben, die aus dem Raster dieser Gesellschaft herausfallen und wir sollten jede Chance nutzen, um diese Menge kleiner zu machen.“