seit 1994

Wenn Kinder keine Kindheit hatten

Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien 28.12.2002


Von Hannelore Baier

 

Wenn Kinder keine Kindheit hatten

Erlebnispädagogische Einzelbetreuung in Kastenholz / Soziale Einrichtungen in evangelischen Pfarrhäusern (V)

 

Zwölf Kilometer von Hermannstadt/Sibiu in Richtung Agnetheln/Agnita entfernt liegt Kastenholz/Casolt. Um ins Dorf zu gelangen, muss man von der Landstrasse rechts abbiegen und fährt an klaren Tagen direkt aufs Fogarascher Gebirge zu. Der faszinierende Anblick der berge war mit ein Grund dafür, weshalb der Projektleiter des KAP-Institutes in Regensburg, sich mit seinem Schützling hier niedergelassen hat. Seit August diesen Jahres bewohnen sie das evangelische Pfarrhaus im Dorf, das, wie die eingravierte Jahreszahl verrät, 1987 renoviert worden ist. Einen Pfarrer gab es aber schon damals nicht mehr. Seit Weihnachten 1997 fand hier auch kein Gottesdienst mehr statt und die Gräber am Friedhof sind fast alle mit einem Betondeckel zugedeckt. Im Dorf leben noch zwei evangelische Familien sowie zwei alleinstehende Männer, und die werden zum Gottesdienst in die Nachbardörfer abgeholt.


KAP steht mit schwarzer Farbe am Tor des Pfarrhauses und das Kürzel bedeutet „Kooperative Abenteuer Projekte“. Das vor acht Jahren von Peter Alberter gegründete Institut hat drei Standbeine: Es bietet, erstens, eine Zusatzqualifikation „Erlebnispädagogik in der Kinder- und Jugendhilfe“ an und veranstaltet zweitens erlebnisorientierte Fahrten für Schulklassen und verschiedene Berufskategorien (z.B. Manager), bei denen unter anderem Zusammensein mit anderen genießen und gestalten, Konflikte ohne Streit lösen, Sensibilität für Natur und Umwelt aus konkreten Erfahrungen heraus entwickeln, Selbstvertrauen durch Entdecken und Stärken von neuen Fähigkeiten aufbauen, die eigenen Grenzen einschätzen und  erweitern lernen vermittelt werden. Drittens geben Erlebnispädagogen des KAP auffällig gewordenen Jugendlichen intensive Einzelbetreuung im In- und Ausland. Eine derartige Einzelbetreuung erfahren der 12jährige Max (Name geändert) und ein anderer Junge derzeit in Kastenholz. Vom KAP-Institut nach Rumänien vermittelt leben weitere zwei Jugendliche in der Gegend von Hermannstadt.


Die erlebnispädagogische Einzelbetreuung bedeutet für diese Jugendlichen eine letzte Chance vor der Kinder- und Jugendpsychatrie oder dem Strafvollzug. Diese 10-18jährigen haben meist zehn und mehr Heime durchlaufen, waren bei mehreren Pflegefamilien, sind seelisch, oft aber auch sexuell mißbraucht worden und haben darauf oft mit kriminellen Handlungen reagiert. Sie hatten keine Kindheit, lernten früh das Überleben und versuchten auf „ihre“ Art die Aufmerksamkeit zu erregen. An diese Jugendlichen ist es besonders schwer heranzukommen, eine Beziehung und Vertrauen zu ihnen aufzubauen. Manchmal klappt es nach Monaten, manchmal aber auch gar nicht. Sie können aufgrund ihrer Erfahrungen schwer damit umgehen, dass nun jemand da ist, der sagt, ich mag dich so wie du bist. Und diese Arbeit mit den Gefühlen ist das weitaus Schwerste bei der Betreuung.


Eine derartige Intensivbetreuung dauert eineinhalb bis zwei Jahre, und sie wird vom Jugendamt beantragt. Den Jugendlichen wird die Möglichkeit der sozialen Integration geboten, indem ihr Tagesablauf und ihr Leben eine Struktur erhält. Gearbeitet wird dabei in vier Phasen: zunächst wird der Jugendliche mit seinem Betreuer gleich am ersten Tag in der Natur ausgesetzt, wo mit Gepäck 80-100 Kilometer erwandert und danach eine Bootsfahrt, gekoppelt mit einem Mountainbike-Trip über 350 km mit Zelt zurückgelegt werden muss. Anhand der Tagesdokumentation des Betreuers und es Jugendlichen wird danach in einer Zwischenauswertung über die nächsten Schritte in der Erlebnis-Therapie entschieden. Oft ist das ein Standortprojekt.


Der Betreuer und Max kamen per Rad aus Deutschland nach Kastenholz und entschlossen sich, hier ihr Standortprojekt durchzuziehen. Zunächst musste das Pfarrhaus gesäubert und hergerichtet werden, Arbeit die nach und nach getan wird. Die Fensterläden wurden abmontiert und neu gestrichen, im Hof des Hauses der alte Zaun ersetzt. Frisch gekalkt wurde der Stall, denn  dort sollen Tiere leben, und auch eine „Schwitzhütte“ wurde gebaut, um im Winter nicht mehr zur Sauna nach Hermannstadt fahren zu müssen. Beschäftigungstherapie für einen 12jährigen? Wichtig sei es nicht, wie schnell eine Arbeit durchgeführt wird, sondern das sich die Jugendlichen konzentrieren und an einer Sache dranbleiben lernen. Hier wird mittels Umgang mit Materialien erfahren, dass ein Produkt entsteht. Die Jugendlichen erleben, dass sie etwas leisten können, und das stärkt das Selbstwertgefühl. Sie erhalten eine Aufgabe - und damit die Chance zu zeigen, was in ihnen steckt. Tiere sollen hinzukommen, weil damit nicht nur Verantwortung übernommen, sondern auch eine neue Beziehung zu anderen Lebewesen aufgebaut wird: Viele der Jugendlichen  haben früher Tiere gequält. Doch bestimmt nicht die Arbeit den Tagesablauf allein: Dreimal pro Woche erhält Max Unterricht in Deutsch, Mathe, Englisch, Rumänisch und Religion von einer Studentin am Theologischen Institut. Sein „Kollege“ aber wird nach Weihnachten die Schule in Hermannstadt besuchen. Kontakt zur Schule und den Schülern in Kastenholz wurde ebenfalls geknüpft. Und immer wenn eine Arbeit abgeschlossen ist, wird ein Ausflug, eine Radtour oder eine Wanderung veranstaltet. Als wir Ende November in Kastenholz waren, trafen wir nur Maja Thorwächter an, die für die Jugendlichen eine Art Oma ist und oftmals für die vier Pfarrhausbewohner kocht.


Der Betreuer, ausgebildeter Heilerziehungspfleger und Erlebnispädagoge, der in der Kinderpsychatrie, der Pflege Schwerstbehinderter und der Suchttherapie gearbeitet hat, möchte aber in Kastenholz ein Aufbauprojekt initiieren: Ab Frühjahr soll mit dem Herrichten des Pfarrhauses, aber auch der Kirche erst richtig losgelegt werden. Zusätzlich möchte er den Garten bebauen und die Tiere für den Stall anschaffen. Es sollen auch rumänische Kinder eingeladen werden, um die Natur zu erfahren und Abenteuer zu erleben, wie sie das in der Stadt nicht können. Er denkt daran, die Schmalspurbahm zwischen Hermannstadt und Agnetheln zu reaktivieren, Erlebnistourismus aber auch auf anderen Gutshöfen anzubieten. Er referiert auch an der Friedrich-Müller-Schule für Alten- und Behindertenpflege über Erlebnispädagogik und in der Klasse am Päda, die Freizeitpädagogen ausbildet. Und warum sollen nicht auch Erlebnispädagogen in Rumänien ausgebildet werden, die man auch in der Präventionsarbeit mit auffälligen Kindern und Jugendlichen einsetzen kann?


Schwierigkeiten können auch Erwachsene haben, doch darüber mehr im nächsten Beitrag.