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Abenteuer Erziehung – Grenzen und Möglichkeiten der Erlebnispädagogik

Forum der Wissenschaft, Bayern 2 Radio 23.-25.10.2001


Redaktion Bildungspolitik
Autorin Jutta Prediger
Redaktion Annette Maier


Abenteuer Erziehung – Grenzen und Möglichkeiten der Erlebnispädagogik

 

Teil I : „Sie boomt nicht, sie wuchert!“ 

Erlebnispädagogische Exzesse und Projekte mit verhaltensauffälligen Jugendlichen


Ausschnitt mit dem Radiobericht  zweier vom KAP betreuter Jugendlicher

 

Originalaufnahme Jenny:
„Wo ich gestaunt habe, wo ich 90 km am Tag gefahren bin oder 120 waren es sogar...von Niederalteich nach Passau gefahren und wieder zurück...mit dem Fahrrad...mir der ganze Hintern weh getan, weil der Sattel so klein ist.“

 

Sprecher:
Zu klein für den stattlichen Po von Jenny. Jenny ist 13 und brachte zu Beginn ihrer Fahrrad- und Wandertour noch 10 Kilo mehr auf die Waage. Pro Woche nahm sie vier Pfund ab – ohne Abspeck-Diät. Auf ihren 5 Wochen unterwegs durch die Oberpfalz und Niederbayern trennte sie sich nicht nur von ihrem Übergewicht, sondern auch von viel seelischem Ballast. Von Kilometer zu Kilometer entfernte sie sich mehr von „der“ Jenny, die sie vorher war und eigentlich nicht mehr sein will. Sie war an einem dramatischen Wendepunkt in ihrem Leben: Nach sechs Monaten hatte sie ihr Kinder- und Jugendheim in Nürnberg verlassen müssen.

 

Originalaufnahme Jenny:
„Ich war die Extremste., deswegen haben sie mich auch rausgeschmissen...gesagt soll ne Maßnahme machen und sie nehmen mich im September wieder an. Warum ins Heim gesteckt? Weil ich in der Tagesgruppe war...auch schon geklaut...nicht in die Schule gegangen...in der Frühe um die Ecke …gesagt Bus verpasst. Was geklaut? Geld weniger, Zigaretten, Süßigkeiten.“

 

Sprecher:
Jenny hatte die Wahl, entweder bei einer Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung mit zu machen oder komplett eingesperrt zu werden, in ein geschlossenes Heim. Sie entschied sich für die erlebnispädagogische Einzelbetreuung, auch wenn sie keine richtige Vorstellung von dem hatte, was wirklich auf sie zukam. Peter Alberter, Leiter des Regensburger KAP-Institutes – KAP steht für Kooperative Abenteuer Projekte – der Organisation, die im Auftrag des zuständigen Jugendamtes die 4monatige Maßnahme durchführen sollte, packte Jenny in seinen Jeep – zusammen mit einer Betreuerin und jeder Menge Ausstattung für die freie Natur.

 

Originalaufnahme Jenny:
„Am Anfang…von Hr. Alberter mitten im Wald rausgelassen...des war in Kastl und da mussten wir bis nach Regensburg laufen. Wir waren zu zweit...also ich und Anita Schmidt...sind halt jeden Tag zwischen 20-25 Kilometern gelaufen. Also ich bin jetzt zwei Monate unterwegs, davon 6-7 Wochen in der freien Natur.“

 

Sprecher:
Überlebenstraining mitten in Bayerns Natur – dazu noch mit einer erst 13jährigen, die nicht einmal ganz freiwillig mitmacht! Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung mit Abenteuer-Charakter – soll das etwa auch Erlebnispädagogik sein?

 

Sprecher:
Dahinter steckt ein Konzept, dass sich zwar vieler Mittel und Wege bedient, aber um einiges weiter geht. Peter Alberter, der Planer und Koordinator von Jennys Betreuung:

 

Peter Alberter:
„Die Jugendlichen befinden sich in orientierungsloser Situation..sie werden mitten im Wald...wo bin ich? Müssen dann aktiv werden...intensiv begleitet…und laufen zu Fuß 120-150 km. Sie wissen normalerweise den Weg nicht…sie darf den Weg bestimmen…sagt, wir gehen den Weg und die Betreuerin geht mit. Sie geht mit dem Mädchen die vermeintliche Richtung und erst dann, wenn sie beispielsweise einen Bauern treffen unterwegs und fragen, Mensch…wo simma denn  hier…Bauer sagt…Lautershofener Staatsforst…Ortsteil... dann können sie erst den Ist-Stand bestimmen und dann können sie per Karte und Kompass ihr Ziel bestimmen.“

 

Sprecher:
Während der vielen Wochen, die Jenny oder andere Jugendliche alleine mit ihrer Betreuerin oder ihrem Betreuer verbringen, entwickeln sie fast unweigerlich ein sehr enges Verhältnis zueinander. Allein in der Fremde kommt man sich rasch nahe, man ist aufeinander angewiesen, schläft im Zelt, macht zusammen Feuer, isst miteinander. Eine so vertraute und akzeptierte Weggefährtin hat zu Jenny oder anderen Jugendlichen einen ganz anderen Zugang und Einfluss als beispielsweise eine Heim-Erzieherin. Vorher teilte sich Jenny mit 6-7 anderen Jugendlichen eine Erzieherin, die natürlich nach Schichtende von einer anderen Erzieherin abgelöst wurde. Die Strapazen der langen Radl- und Wandertour liegen seit einer Woche hinter ihr, als sie eine erste Bilanz zieht:

 

Originalaufnahme Jenny:
„Mir hat`s sehr viel gebracht, weil wie ich damals im Heim war, habe ich geklaut bis zum Umfallen, gelogen. Des fällt mir halt jetzt selber auf, dass ich des gelernt habe, es nicht mehr zu tun...weil ich denke, des sind Leute, die kennen mich nicht und die wollen Vertrauen zu mir haben...dass ich mich von meiner besten Seite zeige. Dass ich des Klauen weglasse, dann das Lügen, Betrügen.“

 

Sprecher:
Inzwischen weiß sie sogar, was sie will: den Hauptschulabschluss und danach eine Ausbildung im Hotelfach oder als Friseurin. Von Sozialhilfe zu leben wäre ihr ein Graus. Da Jenny Kinder möchte, will sie beruflich auf sicherem Boden stehen, sie im Notfall alleine ernähren können. Um das zu erreichen muss sie zurück ins Heim und in die alte Schule.

 

Sprecher:
Leicht wird sie es nicht haben, zumal die 13jährige auch noch um einiges älter aussieht. Die vier Monate der intensiv sozialpädagogischen Einzelbetreuung waren kurz vor dem Beginn des neuen Schuljahres zu Ende. Seit sechs Wochen sitzt Jenny nun schon wieder in der 6. Klasse. Wieder, denn das letzte Schuljahr hatte sie ja abgebrochen.

 

Sprecher:
Aber Jenny hat immerhin 16 Wochen gelernt, sich durchzubeißen. Weiter zu gehen oder zu radeln als sie Lust hatte sowie einen Arbeitstag lang durch zuhalten. Der zweite Teil ihrer Erziehungs-Maßnahme bestand nämlich ganz schlicht aus ARBEITEN. In dieser Etappe war die Sozialpädagogin Petra Wickert rund um die Uhr für Jenny da.
Sie hatte Jenny auch den Aushilfsjob in einer Gärtnerei mit angeschlossenem Cafe und Kreativ-Veranstaltungsbereich vermittelt. Ohne Bezahlung – versteht sich. Ohne persönliche Kontakte hätte das kaum geklappt, denn wer möchte schon eine Jugendliche mit einer derartigen Vorgeschichte im Betrieb aufnehmen. Aber im Hesperidengarten einige Kilometer außerhalb Regensburgs war sie willkommen.

 

Originalaufnahme:
„Jenny: Also ich muss des jetzt noch umtopfen und dann derf i noch Rasen mähen.

 

Petra: Rasenmäher am Abend fahren macht natürlich viel mehr Spass als acht Stunden in der Gärtnerei arbeiten bei brütender Hitze...aber sie macht des jetzt ganz guat...spiegelt ja auch das normales Leben für Jenny wieder. Sie hat ja auch sehr große Schulschwierigkeiten oder im Heim…so jetzt hab ich keinen Bock mehr…und was macht man dann...sondern o.k. dass man sagt, bestimmte Sachen muss man halt machen. Das lernt sie hier auch acht Stunden lang kontinuierlich dabei zu sein. Ganz wichtig.“

 

Sprecher:
Schlimmer kann ein Schultag wohl auch kaum sein – also könnte sie den erst recht überstehen. Ob diese neue Erkenntnis ihr die Kraft gibt, die nächsten vier Schuljahre bis zum Abschluss zu überstehen, wird sich zeigen. Petra Wickert ist jedenfalls optimistisch und findet, dass Jenny sich zu ihrem Vorteil verändert hat. Obwohl sie nicht mit Jenny im Wald ausgesetzt war, hat auch sie ein sehr tiefes Verhältnis zu ihr aufgebaut. Acht Stunden gemeinsam schwitzen, stöhnen, schaufeln – dann gemeinsam zu Hause duschen, essen, schlafen – das verbindet. In Petra Wickerts kleiner Regensburger Stadtwohnung hockte man eng aufeinander. Hin und wieder entstanden Konflikte, so wie sie in einer ganz normalen Familie auch. Dass man sie lösen kann und sich hinterher sogar noch besser versteht, auch das ist ein Lerneffekt dieser ungewöhnlichen Einzelbetreuung.

 

Originalaufnahme Jenny:
„Am Anfang machts total Spass…dann wird es langweilig…dann bock ich rum ja…oft machts auch Spaß“

 

Sprecher:
Jenny musste jeden Tag feinsäuberlich in einem Tagebuch protokollieren. Und auch Petra Wickert schrieb allabendlich Berichte, um das Geschehene noch mal zu überdenken, zu verarbeiten. Vor allem für ihre Kollegin Anita Schmidt, die mit Jenny in der Natur war und sie danach wieder betreute. Die beiden wechselten sich nach einigen Wochen ab, um aufzutanken und mal wieder Privatleben zu genießen. Aber falls Jenny möchte, wird Petra Wickert auch nach dem Ende der gemeinsamen Zeit mit ihr in Kontakt bleiben.

 

Sprecher:
Auch Amina wird sich Stück für Stück von ihrer Betreuerin abnabeln. Seit Februar 2000 war sie beim KAP in einer intensiv sozialpädagogischen Einzelbetreuung, fast eineinhalb Jahre davon wohnte sie im Haus ihrer Betreuerin Gabi Schuster. Nun soll und will die 17jährige auf eigenen Füssen stehen. Peter Alberter kommt zu Besuch und erfährt die Nachricht als Erster.

 

Originalaufnahme:
„Amina hat eigenen Mietvertrag...475.- warm für 55 qm..Möbel? da fahr ma dann mit Auto und Hänger raus…haben sie dich glei gnomma…wie weit zur Arbeit…20 Minuten…da fährt ein Bus.“

 

Sprecher:
Eine eigene Wohnung war Aminas sehnlichster Wunsch. In den Augen des KAP-Instituts ist sie jetzt soweit, dennoch wird sie sich noch an einige Sonderregeln halten müssen: Gabi Schuster hat nach wie vor die Aufsichtspflicht und wird kontrollieren, ob Amina um Mitternacht zu Hause ist, wie sie ihren kleinen Haushalt führt und vor allem, was sie in ihrer Freizeit macht. Anlass zu Misstrauen gab Amina in all den Monaten des Zusammenseins nicht. Im Gegenteil, sie verhielt sich vorbildlich, obwohl sie früher ein ganz besonders schwerer Fall war.

 

Sprecher:
Das bei ihr eine 4-6monatige Einzelbetreuung wohl kaum reichen würde, war den Betreuern von Anfang an klar. Amina kennt ihren Vater nicht, als sie 12 Jahre alt war starb ihre Mutter an AIDS. Sie hatte sie bis zum Tod gepflegt. Danach ging es steil bergab mit dem Mädchen, bis es vors Jugendgericht wegen Drogendelikten und anderer krimineller Taten ging.

 

Originalaufnahme:
„Im Februar bin ich vom Kinderzentrum St. Vincent rausgeschmissen worden und in die Kinder- und Jugendpsychatrie gekommen…da hab ich dann mit dem KAP-ISE Projekt angefangen.“

 

Sprecher:
Bei Amina war ein anderes pädagogisches Konzept gefragt wie bei Jenny. Nach den extremen Naturerlebnissen sollte sie längerfristig in ein möglichst normales Familienleben integriert werden. So zog sie bei der Sozialpädagogin Gabi Schuster und ihrem Partner ein. Beide betreiben einen Reiterhof in einem sehr kleinen Dorf eine halbe Stunde von Regensburg. An eineigen Wochenenden machte Gabi Schuster mit Amina erlebnispädagogische Aktionen: im Klettergarten, mit dem Kajak, auf dem Fahrrad oder in den Bergen. Unternehmungen die für Amina völlig fremd waren, ebenso ein Zelt- Urlaub in Griechenland. Sie sollte viele Aktivitäten, viele Natursportarten kennen lernen, um zu spüren, was ihr am besten gefällt, wofür sie sich richtig begeistern kann. Denn Begeisterung macht lebendig und  lebensfroh, so der Hintergedanke. Es klappte, auch wenn sie nicht alles aus dem riesigen Angebot mochte: Bergwandern zum Beispiel, darauf hätte sie gerne verzichtet – am liebsten zugunsten des Snowboardens. Dafür reichte das Geld aber nur selten. Langweilig wurde es ihr aber auch an den Wochenenden auf dem Hof nicht: Da gab es Arbeit ohne Ende.

 

Sprecher:
Durchzuhalten bei körperlicher Anstrengung war allerdings nie ihr Problem. Auch früher im Heim nicht. Das Zusammensein mit anderen dagegen schon. Sie hat nichts vergessen, beschönigt nichts, auch ihr Verhalten nicht. Im Heim sprang sie aus dem Fenster und erlitt dabei schwere Schnittwunden. Schließlich wurde sie sogar in die Jugendpsychatrie eingeliefert.

 

Sprecher:
Aminas Lebenswandel übertraf alle Erwartungen, denn bereits nach wenigen Monaten in Betreuung zeigte sie allen was in ihr steckte:

 

Originalaufnahme:
„Ich hab meinen Quali gemacht…mit 2,1 bestanden. Jetzt Lehre als Zimmerer…auf Nacht um fünfe heim und muss dann noch lernen. (Warum ausm Heim geflogen?) Weil ich einige Konflikte mit den Erzieherinnen und anderen Mädchen in der Gruppe hab...Und jetzt fühl ich mich einfach super. (Und jetzt kannst hast du kaum Jugendliche um dich herum?) Nein, aber ich kann mich mit meinen Kumpels treffen. Des waren eh nicht meine Freunde, also hat mich das mehr gestresst…als gut für mich war.“

 

Sprecher:
Seit Beginn der erlebispädagogischen Maßnahme vor 18 Monaten durfte sie ihre „Kumpels“ von früher nicht treffen – das wurde auch kontrolliert. In diesem  Frühjahr kam es aber doch zu einer unvermeidbaren Begegnung mit „alten Bekannten“ – vor Gericht:

 

Originalaufnahme:
Amina: „Hab 150 Arbeitsstunden gekriegt. Einbruch, Drogen – des wars (sehr leise)
Gabi: „ein dreiviertel Jahr hats gedauert bis die Verhandlung war…und die A. hat mittlerweile schon ein ganz anderes Leben gehabt…Vergangenheit wieder eingeholt…des war ganz schön hart…aber…andere Freundinnen getroffen, mit denen sie früher viel unterwegs war…gesehen, was mittlerweile mit denen passiert ist…und wie sie sich entwickelt hat…glaub…merkt, sie hat jetzt ihr Leben wirklich im Griff.“

 

Sprecher:
In knapp einem Jahr wird Amina 18. Bis dahin werden Gabi Schuster und Peter Alberter sie in ihrer eigenen Wohnung öfter besuchen, ihr beim Einrichten helfen und nach dem Rechten schauen, bis sie einmal völlig selbständig leben kann. Vermutlich wird selbst dann der persönliche Draht zu den KAP-Mitarbeitern nicht abreißen. Mit vielen Jugendlichen, die sie in der härtesten Zeit ihres jungen Lebens ein Stück begleitet haben, besteht noch nach Jahren eine lockere Freundschaft. Und manchmal am Wochenende ergibt es sich, dass sie gemeinsam zu einem kleinen Abenteuer in die Natur aufbrechen.

 

Sprecher:
Die Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung, wie sie das KAP anbietet, ist weit über Regensburg hinaus bekannt geworden und hat in Fachkreisen den Ruf: fundiert, gut geplant, trotzdem individuell unterschiedlich und vor allem wirksam zu sein. Ein Tag in einer ISE kostet das Jugendamt hier 395.- DM, das sind 175.- Mark mehr als ein Heimplatz kostet, aber das Ganze kostet immer noch genau 180.- DM weniger als die Unterbringung in der Jugendpsychatrie. Der dortige Tagessatz liegt bei ganzen 573.- Mark! Ein sonderbarer Vergleich –geht es doch im Extremfall um die Zukunft eines jungen Menschen. Trotzdem ziehen ihn die Befürworter erlebnispädagogischer Einzel-Betreuungen immer wieder herab, um sich gegen den pauschalen Vorwurf zu wehren, die Jugendlichen machten Luxus-Urlaub auf Staatskosten. Der Staat bezahlt in jedem Fall. Im schlechtesten muss er die Folgekosten von Raub, Drogenmissbrauch, Selbstzerstörung und Kriminalität tragen. Diese Einzelbetreuungen können Jugendlichen ein Rettungsanker sein, der sie vom völligen Abtriften in die Illegalität abhält, sie innehalten und nachdenken lässt, so dass sie sich auch neu orientieren können.