In: Zeitschrift für Pädagogik, 56 (3), 437-440. (2010)
Werner Michl: Erlebnispädagogik. München: Ernst Reinhardt Verlag (UTB) 2009. 94 S., 9,90 EUR
Bernd Heckmair/Werner Michl: Erleben und lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik. München: Ernst Reinhardt Verlag 6 2008. 354 S., 24,90 EUR.
Torsten Fischer/Jörg W. Ziegenspeck: Erleb-
nispädagogik: Grundlagen des Erfahrungslernens. Erfahrungslernen in der Kontinuität der historischen Erziehungsbewegung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2 2008. 388 S., 21,50 EUR.
Erlebnispädagogik
Die Bezeichnung "Erlebnispädagogik" führt z.T. zu Missverständnissen, denn es geht nicht um Erlebnisse an sich, sondern um Lernen an Herausforderungen. Zum besseren Verständnis vorab eine Definition, die den zwei ersten Werken zugrunde liegt: "Erlebnispädagogik ist eine handlungsorientierte Methode und will durch exemplarische Lernprozesse, in denen junge Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten" (Heckenair/ Michl 2008, S. 115).
Erlebnispädagogik: Handlungsorientierte Methode des Lehrens und Lernens
Werner Michl will mit seinem neuen Buch "Erlebnispädagogik" einen Einstieg in die Erlebnispädagogik geben (S. 7). Jedem Kapitel sind einleitend Fragen vorangestellt, die am Ende zusammenfassend in Form von kompakten Merksätzen beantwortet werden. Ein großes Plus sind die anschaulich und ansprechend gestalteten Zeichnungen, die z.B. den Zusammenhang zwischen Ereignissen, Eindrücken, Erlebnissen, Erfahrungen und Erkenntnissen sowie den entsprechenden pädagogischen Unterstützungsmöglichkeiten treffend in Form einer "E-Kette" (S. 11) visualisieren.
Darauf aufbauend wird die oben zitierte Definition von Erlebnispädagogik plausibel um weitere Merkmale ergänzt: Arbeit mit Aktivitäten, welche direkte Handlungskonsequenzen nach sich ziehen, Auswahl von Herausforderungen, die rein subjektive Grenzerfahrungen (im Gegensatz zu objektiven Gefahren bei einem echten Abenteuer) beinhalten, Reflexion des Gelernten, nachfolgender Transfer sowie Standards bezüglich Sicherheit und ökologischer Verträglichkeit (S. 12£). "Die Erlebnisse, die emotionalen Ungleichgewichte, welche durch herausfordernde Situationen ausgelöst werden, sind dann Ausgangspunkte eines nachhaltigen Lernens" (S. 13).
Sehr verdienstvoll ist m.E, dass das Lernen an Herausforderungen ins Zentrum gestellt wird. Zwei eigene Kapitel behandeln Lernmodelle, die sich in der erlebnispädagogischen Arbeit bewährt haben.
In Kapitel 4 geht es u.a. um Lernzonen, den "Experiential learning cycle", die Rolle von Flow beim Lernen, Aspekte konstruktivistischer Lerntheorien sowie Ergebnisse der Hirnforschung. Schade, dass hier manches nur angerissen wird. Dem metaphorischen Lernen, seiner Rolle beim Transfer des Gelernten und den dahinter stehenden verschiedenen theoretischen Ansätzen ist Kapitel 6 gewidmet. Werden Metaphern - z.B. der "Berg" als Sinnbild für eine zunächst unüberwindlich erscheinende Herausforderung - vorgegeben oder sollen die Teilnehmer bei der Entwicklung ihrer persönlichen Deutungen unterstützt werden? Hierzu gibt es wertvolle Hinweise, welches Modell sich am besten für welche pädagogischen Ziele und Zielgruppen eignet. Weiterhin gibt Michl Einblicke in bewährte Reflexions- und Transfersicherungsmethoden, in die Forschung zur Wirksamkeit erlebnispädagogischer Maßnahmen sowie in ausgewählte Praxisfelder.
Fazit: Ein empfehlenswertes kompaktes Einsteigerbuch, das hält, was es verspricht!
Erlebnispädagogik: Mehr als ein erprobtes Set von Methoden
Das Einführungswerk von Bernd Heckmair und Werner Michl erschien erstmals 1993 und liegt nun in der 6. aktualisierten, erweiterten Auflage vor, die sehr anregend und gut verständlich (m.E. manchmal etwas zu salopp) geschrieben ist.
Ein historischer Teil (Kap. 1) setzt gezielt Schwerpunkte, "ohne die Liste der Vordenker ins Unverbindliche zu erweitern" (S. 16). Dies ist vor allem im Vergleich mit dem zuletzt zu besprechenden Werk positiv hervorzuheben. Mit deutlich mehr Tiefgang als dort wird dargestellt, inwiefern die ausgewählten historischen Persönlichkeiten (Rousseau, Thoreau, Dewey, Specht, Hahn) zu dem beigetragen haben, was heute Erlebnispädagogik kennzeichnet.
In Kapitel 2 werden die aktuellen Entwicklungen international verglichen, wobei neue Impulse aus der "Experiential Education" (handlungs- und erfahrungsorientierte Pädagogik), der "Adventure Education" (entspricht am ehesten der Erlebnispädagogik) und "Adventure Programming" (vergleichbar etwa mit Outdoor-Training) vertieft werden, wie beispielsweise Metaphorik und Isomorphie als Strukturelemente der Planung von Lernprozessen. Der optimalen Planbarkeit wird anschließend als Gegenpol die Arbeit mit subjektiven Metaphern der Teilnehmer gegenübergestellt, von wo aus geschickt der Bogen zu einem konstruktivistischen Lernverständnis geschlagen und auf die Begrenztheit der Plan- und Steuerbarkeit individueller Lernprozesse verwiesen wird. Neu ergänzt wurden neurowissenschaftliche Erkenntnisse (Kap. 2.6) zur wichtigen Rolle von Emotionen, körperlicher Aktivität und Kooperationserfahrungen für nachhaltige Lernprozesse.
In weiteren Kapiteln werden Praxisfelder und Zielgruppen erlebnispädagogischer Arbeit (Jugendarbeit, Jugendhilfe, Schule, Erwachsenenbildung, Behindertenhilfe, Prävention und Psychotherapie), typische Lernorte (Meer, Gebirge, Höhle, Stadt, etc.) und Problemlösungsaufgaben vorgestellt. Der aktualisierte Teil über "Starke Mädchen - arme Jungen?" (Kap. 5.3) überzeugt durch sein Plädoyer für die unaufdringliche Reflexion und Vertiefung von Genderfragen. Ein hilfreicher Anhang orientiert z.B. über Anbieter und Ausbildungen.
Es wird deutlich, dass Erlebnispädagogik durchaus mehr ist, als nur eine Methode: Sie stellt einen ganzen Strauß vielfältiger Methoden (für alle Phasen der Planung, Anleitung, Unterstützung und Auswertung von Lernprozessen) bereit, bietet ein breites Anwendungsfeld, richtet sich an vielfältige Zielgruppen, verfügt über ein ausdifferenziertes Aus- und Fortbildungsangebot (z.B. Masterstudiengang in Marburg), eröffnet ein weites Forschungsfeld und ist mit der zunehmenden Professionalisierung m.E. ein Teilgebiet der Pädagogik geworden. Die Autoren stellen abschließend fest, dass die Erlebnispädagogik inzwischen nicht mehr nur "boomen", sondern "wuchern" würde (S. 310) und äußern die Hoffnung, dass vermehrte "wissenschaftliche Forschung korrigierend wirken" und sie "von der Wucherung zum Wachstum bringen" (S. 312) könnte.
Fazit: Das bisher umfassendste Werk für Einsteiger und Fortgeschrittene; es hat sich in meinen Seminaren mit Studierenden sehr gut bewährt.
Erlebnispädagogik: Verkaufsfördernder Modebegriff
Die 2. Auflage des Buches von Torsten Fischer und Jörg W. Ziegenspeck ist mit der ersten aus dem Jahr 2000 fast identisch. Neu sind lediglich der Titel, einige Überschriften, ein irreführendes Titelfoto (das spannende Aktivität verspricht) sowie ein paar Textabschnitte in Vorwort und Schlussteil.
Alle Kapitel - außer dem zweiten - finden sich bereits wortgleich in der 1999 veröffentlichten Habilitationsschrift von Fischer, ohne dass dies irgendwo vermerkt wäre. Einige dieser Abschnitte wiederum waren schon in seiner Dissertation enthalten. Fischer, der für die "Gesamtdiktion des Textes" (S. 8) verantwortlich zeichnet, hat in gleicher Manier die neu eingefügten Abschnitte aus früheren Artikeln recycelt. Aus dieser Patchworkmethode resultiert ein wenig logischer Aufbau mit vielen Wiederholungen. Auf eine Beantwortung der eingangs genannten (diffusen) Fragestellung (1) oder auf eine Zusammenfassung wartet man ganze 310 Textseiten lang vergeblich.
Die dargebotene "Ideengeschichte der Erlebnispädagogik" (S. 8) entpuppt sich als bloße - teilweise chronologische, teilweise von Wiederholungen gekennzeichnete - Aneinanderreihung einer Unmenge historischer Persönlichkeiten mit jeweils ein paar eher allgemeinen Aussagen dazu und vielen, vielen eingestreuten Zitaten. Letztere erwecken zunächst den Eindruck großer Belesenheit, da die zugehörigen Quellenangaben so gestaltet sind, als ob Primärliteratur ausgewertet worden wäre. Tatsächlich sind jedoch z.B. in Kapitel 2 - das mit rund 155 Seiten die Hälfte des Buches füllt und den Zeitraum von "urgesellschaftlichen Lebenszusammenhängen" bis zum Ende des 19. Jahrhunderts umfasst - die vielen historischen Zitate inklusive der dazu gehörigen bibliographischen Angaben und Seitenzahlen wörtlich aus einer einzigen Sekundärquelle abgeschrieben: Karl-Heinz Günthers "Geschichte der Erziehung", die in der ehemaligen DDR mehrere Auflagen erlebte. (2) Die historischen Informationen zwischen den Zitaten sind ebenfalls z.T. aus diesem Werk übernommen (ab und zu sogar richtig zitiert), wobei die ideologischen Formulierungen weitgehend durch politisch korrektere ersetzt wurden. Neuere Literatur zur Historischen Bildungsforschung wurde nicht einbezogen. Selbst in den Kapiteln zur aktuellen Situation reichen die Literaturangaben nicht über die Mitte der 1990er-Jahre hinaus (mit Ausnahme von Verweisen auf drei eigene Veröffentlichungen am Ende).
In merkwürdigem Kontrast dazu stehen die hochtrabende Sprache und der überzogene (nicht eingelöste) Anspruch „theoretischer Systembildung" (S. 26, 303). Eine Ansammlung historischer Bruchstücke und Zitate ergibt keine Theorie, darüber kann auch der inflationäre Gebrauch von Wortzusammensetzungen mit "-theoretisch" sowie von Modewörtern wie "Diskurs", "Semantik" oder "Identitätssignaturen" nicht hinwegtäuschen.
Was man über Erlebnispädagogik erfährt, bleibt dürftig. Als zentrale Wurzeln der Erlebnispädagogik werden (neben Hahns an mehreren Stellen beschriebenem Werk) immer wieder einseitig der subjektive Erlebnisbegriff bei Dilthey sowie dessen Interpretation durch Neubert hervorgehoben: Durch die Verkürzung auf rein Subjektives eröffnet sich ein weites Feld für beliebige Deutungen. Entsprechend findet man zum "Begriff der Erlebnispädagogik" (S.28) recht Widersprüchliches, z.B. nicht definierte "Outdoor-Pädagogik", die durch "Indoor-Pädagogik" zu ergänzen sei. Die fehlende Eingrenzung spiegelt sich im Ausufern der "Ideengeschichte". Zusammenhänge zur Erlebnispädagogik - sofern überhaupt genannt - bleiben vage. Was hat "Selbsterziehung" von Sklaven (S. 53), die angeblich in "kleinen Gruppen zusammen" "wohnten, aßen, spielten und schliefen" (S. 54) mit Erlebnispädagogik zu tun? Hierzu erfährt man nichts. Am Ende behaupten die Autoren, dass "erlebnispädagogische Ziele, Inhalte und Methoden ... in jeder Teiletappe ... nachweisbar" (S. 303) gewesen seien.
Durch die Brille deutscher geisteswissenschafltich-hermeneutischer Pädagogik gesehen wird von den Autoren immer wieder behauptet, dass die Erlebnispädagogik allein aus der Ideengeschichte hervorgegangen und daher angeblich "nur aus der historischen Kontinuität der Erziehungsbewegungen erklärbar" (S. 303) sei. Das „nur" weist auf Blindheit gegenüber politischen, gesellschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklungen hin, die Behauptung von "historischer Kontinuität" (vgl. auch den Untertitel!) straft die massiven realen Brüche (nicht nur) in der NS- und DDRZeit mit Verachtung. Der Terminus "Erziehungsbewegungen", der von den Autoren an anderer Stelle synonym mit "Erziehungsströmungen" bzw. "historischen Epochen" verwendet wird, verdeutlicht, wie die Autoren geschickt mit subjektiver Beliebigkeit in der sprachlichen Ausdrucksweise Mehrdeutigkeit schaffen.
Fazit: Eine peinliche Collage aus recycelten Versatzstücken, abgeschriebenen Zitaten und unreflektierter Übernahme teils zweifelhafter Quellen. Ohne den Modetrend wäre eine zweite Auflage wohl kaum möglich gewesen.
(1) "Sollte es in bezugstheoretischen Hypothesen zwischen traditionsreichen Erziehungsideen und der modernen Erlebnispädagogik möglich sein, ideengeschichtliche Orientierungen für die Bildungspraxis zu finden?" (S. 8)
(2) Berlin: Volk und Wissen, z.B. S1967.
Dr. Maya Kandler
Ludwig-Maximilians-Universität München
Department Pädagogik und Rehabilitation
Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung
Leopoldstr. 13
80802 München
Wir bedanken uns bei Frau Dr. Maya Kandler für das zur Verfügung stellen der Besprechung.